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Weiße Wolke, die vom Himmel fiel (2001)

Hans Brandlberger war Mathematiker und er glaubte nicht an den Humbug, den ihm sein Freund Marc, ein esoterischer Spinner, wie Hans bisweilen fand, ihm von den Sonnenflecken im Morgentau erzählt hatte. "Sie spiegeln sich darin", hatte Marc gesagt, "du kannst sie sehen, und die Welt dahinter und dich selbst und alles, was dich umgibt. Und in einer bestimmten Konstellation von Sonne, Jupiter und Mars vermischen sich die Welten, Räume und Zeiten, und du wirst eingesaugt und erwachst in einem Kosmos, der aus deinem Innersten ersteht."

"So ein Quatsch!", hatte Hans gesagt und sich wieder seinen Vektoren zugewandt. Denn wie sollte sich in einem Wassertropfen eine Welt bilden, die zudem seine Seele, seine geheimsten und verborgensten Wünsche und Sehnsüchte beherbergte? Wirklich, dieser Marc war manchmal schon sehr verstiegen.

Trotzdem ließ ihn der Gedanke nicht los, und er wälzte alte Bücher über Alchemie und Mystik, die er, aus Angst, ein Kollege könne sie vielleicht einmal beim Stöbern in seinen Regalen entdecken, in eine Kiste auf dem Dachboden verwiesen hatte. Er fand dort ein Faksimile von Apians 'Astronomicum Caesareum', dem letzten astronomischen Standardwerk der geozentri-schen Weltsicht aus dem Jahre 1540. Das Buch enthielt eine Reihe von Pappscheiben, die man mit Fäden bewegen konnte und an denen der interessierte Laie Rechenwerte und Gestirn-konstellationen wie von einem Uhrwerk ablesen sollte. Dann war da noch ein Reprint von Robert Fludds 'Integrum Morborum Mysterium' von 1631, das den Spiegel der Ursachen aller Dinge behandelte. Die Gesamtheit der Schöpfung entfaltete sich demzufolge fächerartig aus der Nacht des göttlichen Urgrunds und ergoß sich aus dem äußeren väterlichen Ring, dem Tetra-grammaton, in die drei, 'Mütter' genannten, hebräischen Buchstaben Aleph, Mem und Shin. Das Aleph? Hans stutzte. War das Aleph nicht der Ort aller Orte, ein Punkt, ja, ein Tropfen, der die Welt enthält? Zögernd blätterte er weiter und fand ein Buch über Spiegel. Magische Spiegel. Und er las dort ein Zitat aus Goethes 'Faust': "Was seh' ich? Welch ein himmlisch Bild / Zeigt sich in diesem Zauberspiegel? / Das schönste Bild von einem Weibe / Ist's möglich, ist das Weib so schön?" Er seufzte. Ja, das Weib! Wie lange hatte er es entbehrt!

Am nächsten Tag, Hans hatte nur wenig geschlafen und noch manches über Astronomie und Zauberspiegel gelesen, schwang er sich nach dem Frühstück auf sein Rad. Er hatte seltsame Dinge geträumt, von dunkelhäutigen Schönheiten, Stammestänzen und Initiationsriten. Dabei, und das wußte er, hatte er in letzter Zeit weder im Fernsehen etwas derart gesehen noch in Zeitschriften darüber gelesen. Doch er war zu müde, um den Gedanken weiter zu verfolgen.

Quietschend eierte er jetzt durch die Mozartstraße, fuhr den Hang hinauf bis zum Goldgäßchen, ließ sich an der Rosenallee wieder hinunterrollen, streckte übermütig Arme und Beine aus, um sich den Wind ins Gesicht blasen zu lassen, und sauste unten am Friedrichspark mit voller Wucht in ein Auto, überschlug sich, wurde über die Motorhaube geschleudert und landete kopfüber im Gras, wobei sich sein Blick im Morgentau verfing, er die Sonnenflecken erkannte, wie sie durch sein Hirn wirbelten, ihm vor den Augen tanzten, ihn hineinsogen in ihre Welt, und bumms! jetzt lag er still, blieb liegen, dämmerte weg, verschwand aus dieser Welt, schlief ein, todesgleich.

Nacht breitete sich aus in seinem Kopf, eine Nacht mit vielen Sternen. Sie flimmerten ihm zu, Orion, Taurus, Leon, Centaurus, sie spielten fangen, und er kam doch nicht nach. Er hätte sie gerne berechnet, aber sie entzogen sich seinem Verstand. Jetzt war es tiefe Nacht, schwarz.

Als er Stunden später aus traumlosem Schlaf erwachte, brummte es in seinem Schädel. Auch registrierte er einen leichten Schwindel, ein kleines Fieber vielleicht. Ihm war heiß in seinen Klamotten, und mit zittrigem Arm tastete er an seinem Hemdkragen herum. "Kia Ora!", sagte eine Stimme. "Kia Ora!"

Hans verstand nicht. Langsam öffnete er die Augen, blinzelte in ein grelles Licht hinein. Es schien ihm zunächst überirdisch, so gleißend hell traf es die Pupillen. Er mußte sich erst daran gewöhnen, und bei jedem Blinzeln fing sein Blick ein neues Detail seiner Umgebung auf, das ihn irritierte. Das Puzzle in seinem Kopf ergab keinen Sinn. "Kia Ora!", sagte die Stimme erneut. "Kia Ora!" Es war eine Frauenstimme, vielleicht auch die eines Mädchens. Sie klang hell, aber gleichzeitig fest, sanft und sonor. "Kia Ora!"

Sein Kopf dröhnte noch immer, aber er arbeitete hartnäckig an den Puzzleteilen, die darin herumstolperten, an die Schädelwände stießen, zurückgeschleudert wurden, sich überschlugen. Ein Palmenhimmel zischte vorbei, er fing Bananenstauden ein, Kokosnüsse, einen braunen Frauenarm. Orchideen sausten ihm durch den Kopf, eine Kette aus Meeresmuscheln, ein Amulett, Federschmuck. Das ergab alles keinen Sinn! Er riß die Augen auf, schnellte empor.

Vor Schreck plumpste das Mädchen nach hinten und schoß wieselgleich in den Schutz der Farnsträucher, wo es den Fremden aus sicherer Entfernung beobachtete. Brandlberger war auf-gestanden und starrte fassungslos auf den Urwald, der ihn umgab. Oh Gott, ging es ihm durch den Kopf, und dann laut: "Oh Gott!" Es war das einzige, was er sagen konnte. "Oh Gott!" Hier war die Mathematik hilflos, hier setzte die Ratio aus, hier stand er allein, verlassen von Archimedes, Thales und Pythagoras. "Kia Ora!", flüsterte die Stimme hinter ihm.

Brandlberger drehte sich um, langsam, schneckenartig. Das Mädchen lächelte. "Tea te kangi, ta rowa kahongi", strahlte sie und neigte ihren Kopf erwartungsvoll zur Seite. Hans sagte nichts. Er betrachtete sie nur von oben bis unten, diese kleine, zierliche Statur mit entblößten Brüsten, einzig bekleidet mit einem bunt bestickten Schurz um die Lenden. Ihr Gesicht war zart, gleich-mäßig und eben, ihre Augen schwarz, ihre Nase klein, aber breit. Um ihren Hals hing eine Kette mit einem Ornament aus kunstvoll geschnitzter Jade. "Kia Ora!", stammelte Hans.

Sie nahm seine Hand und zog ihn mit sich, hinein in den Dschungel, diese Vergangenheit, die sich bei Brandlberger nur noch als Hitze in den Adern bemerkbar machte, diese Tropen, denen er nur noch erlag, wenn die Leidenschaft ihn packte, ihn schüttelte, bis das Hirn erlahmte und die reine Lust die Oberhand gewann. Das war lange her, in seiner Studienzeit vielleicht das letzte Mal, dann kamen die Rechner auf den Markt und Hans arbeitete wie besessen. Tag und Nacht gab er sich hin, den Operationen und Rechenschleifen, dem Bildschirmflimmern und dem Surren der Ventilatoren im Innern seines PCs. Denn selbst Computer brauchen einen kühlen Kopf, um denken zu können. Und jetzt diese Hitze! Und dieses Mädchen, das ihn durch die Tropen zog, an seiner Hand zerrte wie an einer Trophäe. Vielleicht wollte sie ihn ja kochen? Vielleicht war er ihr nächstes Mittagsmahl? Ein Freßchen für die Wilde!

Nein, er mußte ihr vertrauen. Sie war das einzige, was er hatte, der einzige Orientierungspunkt in diesem wilden, irren Traum. Sie war der Ariadnefaden, der ihn aus diesem Labyrinth heraus-führen mußte, wohin auch immer, nur eben raus.

Wenig später waren sie angekommen. Vor ihnen lag das Dorf, eine kleine Siedlung aus Bambus-hütten mit Schilfdächern. Man hatte sie noch nicht bemerkt. Hans sah dutzende dunkelhäutiger Männer und Frauen, alle nackt bis auf den Lendenschurz. Die Männer trugen kunstvolle Tätowierungen im Gesicht und auf den Oberkörpern. Sie sahen gefährlich aus, stark, dionysisch, während in den Gesichtern der Frauen die pure Anmut lag. "Mana ta kane, hoki me tangi", sagte das Mädchen und strahlte ihn wieder an. Jetzt zog Hans sie an der Hand, zurück ins Dickicht.

"Was geht hier vor?", fragte er entsetzt. "Wer bist du?"

Wieder legte sie den Kopf leicht schief, weil sie ihn nicht verstand. Sie lächelte noch immer. Hans zeigte mit dem Finger auf sich und sagte "Hans. Ich Hans". Er hatte das schon hunderte Male in Filmen gesehen, wenn sich Robinson und Freitag, Winnetou und Old Shatterhand, Buck Rogers und Barbarella zum erstenmal einander vorstellten. Jetzt war er an der Reihe, jetzt war es sein Film, seine Begegnung der dritten Art. "Hans. Ich Hans", wiederholte er. "Zoana", sagte das Mädchen und zeigte mit dem Finger auf sich.

Hans versuchte verzweifelt mit ihr zu kommunizieren, suchte nach einer Antwort, er zeigte auf die Sonne und einen Tropfen Nektar, der sich auf einer Blüte gebildet hatte, er ruderte mit den Armen, er fiel vom Himmel, er gestikulierte – seine letzten Erinnerungen, das Auto, den Aufprall, das Erwachen. Er sah ratlos aus, und das Mädchen lachte. Sie ging auf ihn zu und küßte seinen Mund. Hans war ratlos.

Als sie ins Dorf gingen, warfen sich alle zu seinen Füßen. Ein Gott war ihnen erschienen. Hans war das alles sehr unangenehm, Zoana lachte. Als man sich nach Tagen an ihn gewöhnt hatte, lachte Zoana noch immer. Er hatte eine eigene Hütte bekommen, und sie besuchte ihn mehr-mals am Tag, brachte ihm zu essen und hörte ihm zu. Sie nannte ihn jetzt Wakatearewa – weiße Wolke, die vom Himmel fiel. Und Zoana war seine oberste Priesterin.

Wochen vergingen, nichts geschah. Hans erkundete die Umgebung. In der Nähe lag das Meer, grün und einsam wie im Prospekt. Das Paradies, dachte er, er, der Mathematiker, und er stellte Berechnungen an, wo es wohl liegen könne. Und vor allem: wann! Denn die Weißen waren noch nicht hier gewesen, die Zivilisation war noch fern, fern in irgendeiner Zukunft, die er kannte und die er von Tag zu Tag weniger vermißte. Natürlich quälten ihn die Gedanken, was mit ihm geschehen war, was das alles zu bedeuten hatte, wieviel Zeit ihm noch blieb. Denn tief in seiner Seele spürte er, daß er zurückkehren würde. Zurück in ein kaltes Deutschland, in eine unbequeme Kultur.

Zoana lachte. Und es war ihr Lachen, das ihn am meisten gefangen hatte, das er brauchte wie eine Droge, wie die Mathematik. Er begann es zu malen, als erstes im Sand, dann schnitzte er es in das weiche Holz der Kauribäume und später in grüne Jade. Er trug ihr Lachen um den Hals, es war zu seinem Talismann geworden. Zoana, sein Amulett.

Im Dorf war er der Gott, man respektierte, fürchtete ihn. Man brachte ihm alles, was er brauchte, war an seiner guten Laune interessiert. Er hätte sich fühlen können wie Prometheus, dieser Kulturstifter, hätte sie die Technik und die Schrift lehren können. Er hätte ihnen Geschichten aus seiner Welt erzählen können, Verbesserungen vorschlagen. Aber er wußte ja, wohin diese Technik und Kultur geführt hatte, und so lehrte er sie nichts. Vor allem nicht diese schreckliche Mathematik, die die Phantasie tötete und alles erklärte. Er ruhte sich aus und genoß.

Zoana führte ihn eines Tages in den Wald zu einer Höhle. Im Innern war es hell und grün, und man fühlte sich wie sein eigenes Licht, schien sich aufzulösen in tropische Transzendenz. "Kara na zongi", flüsterte sie. "Teka ta nori", flüsterte Hans, und sie fielen sich in die Arme, das erste Mal, vereinigten sich, verschmolzen. Für sie war er nicht der Gott, für ihn war sie die Göttin. Sie liebten sich lange in diesem Licht, und es war wie die Erschaffung eines neuen Geschlechts.

Wieder vergingen Wochen. Zoana hatte einen Bauch bekommen, was ihren Status im Dorf erhöhte: Der Gott hatte mit ihr ein Kind gezeugt. Sie gingen jetzt öfter ans Meer. Zoana glitt durch das Wasser wie ein Delphin, Hans schwamm träge hinterher. Woher hatte sie nur all diese Kraft? fragte er sich. Sie alberten im Wasser herum, liebten sich, sie liebte ihn, er liebte sie. Sie spielten fangen, so wie damals die Gestirne, als er hierher kam, aber jetzt war eben jetzt. Und er tauchte unter, unter ihr durch, er wollte sie necken, doch da, was war das, etwas Weißes schoß an ihnen vorbei, über sie hinweg, etwas großes Weißes.

Hans wollte auftauchen, aber es zog ihn hinab, immer tiefer. Er hörte Zoana seinen Namen schreien, ins Wasser hinunter, und er streckte einen Arm aus, nach ihr, nach seiner Geliebten, seiner Zukunft, ihrem Kind. Doch der Sog war einfach stärker, zog ihn hinunter in die Tiefe, hinein in das Schwarz, die Bewußtlosigkeit. Dann war Ruhe.

Hans strandete an einem flachen Baumwollufer in einem blaurot gestreiften Pyjama und wurde von blaßhäutigen, blonden Wilden in weißen Kitteln umsorgt, die ihn alle anlächelten, ihm die Spritze aus dem Bein entfernten und ihm wohlwollend und milden Blickes mit einer weißen, abgegriffenen Bettdecke zudeckten. Dann fielen ihm die Augen erneut zu und er wurde erst wieder von den wärmenden Strahlen der Sonne geweckt, die durch die Jalousien ins Zimmer und auf seine Nase fielen.

Wieder zuhause, verkaufte er seinen Rechner und machte sich auf die Suche, nach Zoana, nach den Sonnenflecken im Morgentau, nach dem Leben. "Ich werde dich finden!", sagte er.