Quentin Lobenstein ist tot. Damit hat sich einer der größten potentiellen Schriftsteller des dritten Jahrtausends um seine Chance gebracht, den Ruhm zu erlangen, der ihm und seinem Werk zweifellos gebührt hätte, hätte er es nur ausgeführt. Lobenstein (alle nannten ihn nur bei seinem Nachnamen) hatte sich jedoch zeitlebens geweigert, auch nur eine Zeile "Literatur" (er sagte immer, seine Texte hätten nichts mit Literatur in Anführungszeichen zu tun) zu verfassen – ein Umstand, der ihm posthum noch zu schaffen machen wird, da ich als sein engster Freund und schärfster Kritiker das Vorhaben verfolge, ihn durch seine Schriften zu neuem Leben zu erwecken, ja, ihn (wie Max Brod bei Kafka) unsterblich machen will.
Lobenstein war Philosoph, auch wenn er das nicht gerne hörte. Sein Denken drehte sich stets im Kreis, wie wir aus seinen Schriften erfahren. Er war gefangen im Bannkreis der Metaphysik, einem Labyrinth, das er im zarten Kindesalter zu betreten gezwungen war und aus dem er sich nicht wieder befreien konnte. Sein einziger Ausweg war deshalb der Tod (Der tiefere Sinn eines jeden Labyrinths ist der Tod des sich darin Befindlichen). In seinem Abschiedsbrief, den ich aus Gründen der Pietät (der mangelhafte Stil, einige unschickliche Details über Verdauungsbeschwerden und einzelne Personen aus dem Freundeskreis) an dieser Stelle nicht veröffentlichen möchte, verfügte Lobenstein gleichsam testamentarisch, daß ich, um doch noch eine gewisse (wenn auch makabre) Freude an seinem Tod finden zu können, "seine sämtlichen Bücher" (so lautete der Text) erben sollte. In der Tat fand ich daran Gefallen, denn unter "seine sämtlichen Bücher" fielen auch seine Tagebücher und sonstigen Aufzeichnungen, die er stets gewissenhaft (ich wußte das, weil er mir manchmal daraus vorgelesen hatte) in dicke, gebundene Notizhefte niedergeschrieben hatte. Aus diesen Aufzeichnungen erhellen sich denn letztlich auch die Umstände seines Todes, der um so bedauerlicher ist, da Lobenstein für sich selbst bereits einen Weg aus dem Nihilismus (seine sogenannte 'Philosophie des Originalismus') gefunden hatte, dem er so lange hoffnungslos ausgeliefert war und der ihn so oft in tiefe Krisen und Depressionen gestürzt hatte. Und doch schien ihm auch diese Lösung nicht befriedigend, was wiederum sein Tod beweist.
In den letzten Wochen vor seinem Tod beschäftigte sich Lobenstein mit Umberto Eco und Jorge Luis Borges (daher vielleicht seine Entdeckung, tatsächlich in einem Labyrinth gefangen zu sein), der literarischen Postmoderne (wahrscheinlich eine Bestätigung seiner These, daß "Literatur" als Gattung wie jede andere Gattung oder "Kultur" einem Lebenszyklus unterworfen sei, der unausweichlich in den Untergang führt), mit Kulturphilosophie (insbesondere Ernst Cassirers 'Philosophie der symbolischen Formen' und Freuds 'Unbehagen in der Kultur') sowie einer Reihe einzelner Aufsätze zur Poetik der Frühromantik und Goethes Verhältnis zur bildenden Kunst. Ich erwähne dies alles, wie gesagt, um die Umstände seines Todes transparenter zu machen. Denn obwohl Lobenstein Philosoph war, war sein Denken stets wechselnden Einflüssen ausgesetzt, und ich, als sein engster Vertrauter, vermute in der Konstellation der oben aufgeführten Schriftstücke den tödlichen Grund seiner letzten Verzweiflung zu entdecken, der sich auch in den folgenden von mir ausgewählten Notizen immer wieder spiegelt:
Mittwoch, 26. November 1997
Ich bin Romantiker. An der Schwelle zum dritten Jahrtausend. Welche Peinlichkeit! Zwar beklagt man allerorts die Entzauberung der Welt – aber wer ist "man"? Vor genau 200 Jahren, in direkten Anschluß an die Aufklärung, schrieben die Romantiker ihre Manifeste, gezeichnet von der Verzweiflung an der Welt, dem Mangel und Ungenügen an der Wirklichkeit – hat sich daran etwas geändert? Für den Romantiker wohl nicht. Dieser hat zu allen Zeiten seine Mutter verflucht, die ihn in diese Welt gesetzt hat – ungefragt. Und sein Verdruß gründet seit jeher in seiner Unfähigkeit, die Augen zu schließen und das Spiel mitzuspielen.
Der Romantiker braucht keine Begabung, er hat kein Talent. Es ist einzig seine Unfähigkeit zu schweigen, die ihn produktiv macht, sein Ekel an der Welt, seine Angst vor dem Wahnsinn. In diesem Sinne ist er eine Mißbildung der Natur, ein Cretin, oder soll ich besser sagen: ein Opfer der Kultur?
Ein Rest Metaphysik hält den Romantiker noch am Leben. Und es ist die große Gnade meiner Zeit, daß noch nicht alle Geheimnisse gelüftet sind: Ohne Geheimnisse keine Mysterien, ohne Mysterien keine Mythen, ohne Mythen keine Literatur, ohne Literatur keine Romantiker, kurz: ohne Geheimnis keine Romantik, keine Dichtung, keine Poesie!
Und trotz dieses Wissens, dieser befreienden Erkenntnis, quält sich der Romantiker von heute mit einer post-postmodernen Scham: der Scham zu schreiben, zu denken, zu fühlen. Denn selbst sein ureigenster Bezirk, die Literatur, ist entmystifiziert, gereinigt von tiefem Gefühl. (Ich kann heute unzensiert und ohne mich lächerlich zu machen von Schwänzen und Mösen reden, aber nicht von wahrem, tiefem Gefühl. Dem Sündenfall des Wortes hält keine Seele stand.) Was geblieben ist, ist die Oberfläche, das Symbol des Gefühls. McEmotion: Fast-Food für die Seele. Wie Goethe bereits erkannte: Das Romantische ist das Krankhafte, das im Sog des Rationalismus nicht überleben wird.
Montag, 1. Dezember 1997
Meine Eltern sind der eigentliche Fluch meiner Existenz. Indem sie mir ihre welt-, lebens- und lustfeindliche, a-soziale und beschränkte Lebenshaltung und -sicht vorgelebt haben, die so realitätsfern und unwürdig ist, daß sie mir unmöglich als mögliches Lebensprinzip hätte gelten können, das es wert wäre, kopiert zu werden – indem sie mir also eine von Grund auf hassenswerte Haltung demonstriert haben, sah ich mich von früh auf gezwungen, einen anderen Weg, meinen, zu suchen und einzuschlagen.
Meine Suche hat mich dazu geführt, alle Lebenshaltungen kritisch zu hinterfragen und letztlich als Schein zu entlarven. Der Weg, die Philosophie die ich heute lebe, ist eine chronische Ablehnung sämtlicher Möglichkeiten, sein Leben würdig und 'standesgemäß' zu leben. Ein Unweg also, eine Unphilosophie, deren Normalzustand die Lebensunfähigkeit ist, die Unfähigkeit zu sinnvollem Handeln, die Unmöglichkeit, irgendwann irgendwo anzukommen.
Meine einzige Chance zum Leben zu kommen liegt damit in der Selbsttäuschung, im Spiel mit den Realitäten, in der Flucht in die Besinnungslosigkeit, den Rausch, die pure Existenz – ins Animalische, Triebhafte, Unmoralische also, d.h. in alles, was nicht Mensch-Sein bedeutet, was menschenunwürdig ist! Seltsame Tragik!
Das heißt, die eigentliche Tragik liegt erst darin, daß ich TROTZDEM versuche, MENSCH zu sein – und zwar der menschlichste von allen: Ich versuche mich an meiner Bildung, stürze mich auf die Kultur (die ich auch nur wieder als 'symbolische Form' entlarvt habe), versuche meinen Geist ins Zentrum meines Lebens zu rücken (statt meinen Körper, wie es Tiere gemeinhin tun). Mit anderen Worten: Ich wirke in allem, was ich tue, verzweifelt dem entgegen, was meine eigentümlichste Bestimmung zu sein scheint. Ich versuche mich zu domestizieren, zu zivilisieren, zu kultivieren – um letztlich doch nur wieder die Unmöglichkeit meines Vorhabens vor Augen zu haben. Das ist die wahre Tragödie meines Lebens, meiner Existenz!
Hätten mir meine Eltern eine Haltung, eine Philosophie vorgelebt, die ich "unbedenklich" (!) gefunden hätte, hätte ich vielleicht nie am Leben "gekratzt", hätte nie versucht, den Schleier des Geheimnisses zu lüften, wäre in meiner ansozialisierten Blindheit glücklich gewesen, hätte eine Chance zum Leben gehabt. So bin ich nur der Schauspieler meiner selbst – in einer armseligen, lächerlichen Rolle, ein Schatten der Ironie, ein Lapsus der Natur. Homo homini lupus, Wolfsmensch – die einzig wahre, weil illusionslose Art der Gattung Mensch. Tragisch nur, daß sie sich ständig selbst zu überwinden sucht – im Suizid oder im Streben nach Höherem. Es gibt nur diese beiden Möglichkeiten. Nietzsche ist darüber wahnsinnig geworden.
Nachtrag vom 2. Dezember (Dienstag)
Die Konsequenz dessen ist, daß sich mein Leben immer nur um mich selbst drehen wird und kann, daß ich andere Inhalte immer nur auf diesen Zweck hin anwenden und ausnutzen werde, um etwas über mich zu erfahren. D.h. ich werde niemals Erfüllung finden können, weil ich bereits mit mir selbst ausgefüllt bin – was mich nicht gerade mit Glück erfüllt, da ich selbst mir selbst nur Hindernis, Konflikt, bedeute und Erfüllung immer nur von außen kommen kann. D.h. mir ist sogar die Möglichkeit verschlossen, "Künstler" zu sein – auch wenn mein mentales Paradigma ausgezeichnet hierzu passen würde.
Sonntag, 7. Dezember 1997
Ich habe heute die vielleicht peinlichste Entdeckung meines Lebens gemacht! Ich, der so gerne mit Worten um sich wirft wie Symbolik, Metaphorik, Semiotik, Sprachkritik... bin der Sprache selbst mein ganzes Leben immer wieder in die Falle gegangen, weil ich die Sprache als etwas Absolutes, Vollkommenes, gesehen habe!
Ich habe erst heute erkannt und begriffen, daß uns die Sprache derart in ihrem Taumel mitreißt, daß wir zu keinem klaren Gedanken mehr fähig sind. Ich habe der Sprache blindlings vertraut, habe angenommen, daß sie nur Dinge bezeichnen kann, die existieren – weil ich dachte, daß die Existenz der Dinge der Sprache vorausgeht, vorausgehen muß.
Dabei gibt es tatsächlich Worte, die Dinge bezeichnen, die es eigentlich nicht gibt, nur per definitionem, z.B. Hexen, Kobolde, Gorgonen, Zyklopen, Faune, Zentauren, Teufel oder GOTT.
Man müßte solche Worte mit einem Prä- oder Suffix kennzeichnen, um ihren hypothetischen Charakter bewußt zu machen. In der Wissenschaft hat man diese Konstrukte, die nur per definitionem existieren, mit der hübschen Nachsilbe -ISMUS kenntlich gemacht. Eine solche Endung sollten zukünftig alle derartigen Scheinworte verpaßt bekommen, einfach, um dem Irrationalismus (ein -ismus!) ein für alle Mal das Handwerk zu legen.
Nachtrag vom 8. Dezember (Montag)
Gibt es eigentlich ein Lexikon derjenigen Begriffe, deren Sache das Wort bezeichnet nur in der Phantasie, der Vorstellung des Menschen existiert?
Donnerstag, 11. Dezember 1997
Es gibt keine Metaphysik! Deshalb kann das Leben auch in metaphysischer Hinsicht nicht sinnlos sein! In Bezug auf eine Sache, die nicht existiert, kann nichts sinnlos sein, da der Bezug an sich nicht existiert. Zu behaupten, das Leben sei in metaphysischer Hinsicht sinnlos, ist genauso sinnlos, als würde man behaupten, das Leben sei in tlönischer Hinsicht sinnlos. Tlönik existiert nicht, ist genauso wie Metaphysik nur eine Erfindung des Menschen – mit dem Unterschied, daß der Begriff "Metaphysik" mit einem bestimmten Spektrum an Vorstellungen konnotiert ist. Da diese Vorstellungen (!) jedoch menschlicher Herkunft und rein aus der Verlegenheit entsprungen sind, die menschliche Existenz zu rechtfertigen, sind sie historisch.
Nietzsches "Gott ist tot!" ist insofern nichts anderes als der Versuch, die Religion (und mit ihr die Metaphysik) zu historisieren. Beim Mythos ist dies längst geschehen – er ist längst als Erklärungsversuch des Menschen gegenüber der übermächtigen Natur entlarvt worden. Fragt sich, wann Religion und Metaphysik endlich aus dem Denken des aufgeklärten, mündigen Menschen verschwunden sind.
Da es nichts Metaphysisches gibt, bleibt also nur das Physische, die nackte Existenz, das Da-Sein und So-Sein der Dinge. Sie [die Existenz, Anm. d. Hrsg.] ist die absolute Basis aller Überlegungen. Im Falle des Menschen ist in dessen Entwicklung aus dem Natur-Bewußtsein das Kultur-Bewußtsein entsprungen. Die menschliche Kultur ist damit der Maßstab, an dem gemessen werden muß. An die Stelle der Metaphysik ist die Ethik getreten.
Randanmerkung (undatiert)
Es ist erstaunlich, wie tückisch die Sprache doch ist, wie sie durch die Hintertür gekrochen kommt und ihren Urheber (bzw. seinen Nachfahren) eine Falle stellt: Allein durch die bloße Existenz des Wortes "Gott" sieht man sich der tatsächlichen Existenz eines Gottes gegenüber! Das ist die Macht der Worte! Gott wird nur sterben, wenn das Wort "Gott" aus dem Sprachschatz der Menschheit ausgelöscht wird. Denn in der Sprache ist er lebendig, und nur durch sie läßt er sich töten! Das war auch Nietzsches Fehler – das WORT weiterhin zu benutzen!
Freitag, 19. Dezember 1997 ['Das Manifest des Originalismus', Anm. d. Hrsg.]
Das Ziel des Nihilismus, schrieb Camus, ist, den Nihilismus zu überwinden. Und tatsächlich habe ich die letzten Jahre mit nichts anderem verbracht, als nach einer Möglichkeit zu dessen Überwindung zu suchen. Heute scheine ich eine plausible Möglichkeit gefunden zu haben. Wenn auch das Leben in metaphysischer Hinsicht sinnlos ist (vgl. Eintrag vom 10. Dezember), so liegt sein Sinn und seine Rechtfertigung doch in einer simplen Tatsache: seiner Existenz und dessen Einzigartigkeit!
Die Idee zu dieser Lösung kam mir ganz plötzlich bei der Lektüre von Borges' Bibliothek von Babel, wo er die begrenzte (wenn auch unendlich erscheinende) Anzahl von Möglichkeiten der Kombination von Schriftzeichen durchspielt. Er geht in seiner Überlegung von Büchern mit der gleichen Seitenzahl und gleichen Anzahl an Schriftzeichen aus, die über eine unendlich verzweigte Bibliothek verteilt sind: das Universum. (Die Bibliothek ist tatsächlich unendlich, da sie zyklisch aufgebaut ist, d.h. daß es in einem Abstand von Milliarden Lichtjahren tatsächlich 'identische' Bücher gibt.) Geht man jedoch, der Wirklichkeit entsprechend, zusätzlich von unterschiedlich dicken Büchern mit beliebiger Zeichenzahl aus, so ergibt sich eine noch größere Zahl an Möglichkeiten (die jedoch ebenfalls begrenzt ist).
Jedes dieser Bücher könnte nun die Geschichte eines Menschen, seiner Gedanken, seiner Begegnungen und seiner unmittelbaren Umgebung erzählen. Mit anderen Worten: Jedes dieser Bücher könnte einen ganz bestimmten, einzigartigen Menschen darstellen. Und auch wenn sich viele dieser Geschichten ähnlich lesen, unterscheiden sie sich doch immer wieder in Details – selbst bei siamesischen Zwillingen. Und jedes dieser Bücher ist ein absolut notwendiger Bestandteil in dieser Bibliothek der Zeit. Denn die Bibliothek selbst ist absolut! Ihre Aufgabe besteht darin, alle nur denkbaren Geschichten zu sammeln.
Die Bibliothek ist sich selbst Zweck genug – einfach dadurch, daß sie existiert. Sie ist der absolute Sinn, dem sich nichts Existierendes (oder bloß Mögliches!) entziehen kann, weil die Bibliothek einfach vorhanden ist. Es macht deshalb keinen Sinn zu fragen, wie oder wozu die Bibliothek entstanden ist – maßgeblich ist nur die Tatsache, daß sie entstanden ist und dadurch unauslöschlich geworden ist.
Der Schlüssel zur Existenz ist also die Existenz selbst! Der Sinn der Existenz des Individuums ist dadurch gerechtfertigt: durch die Existenz der Bibliothek, die seine Geschichte sammelt und sich in ihr Gedächtnis einverleibt. In diesem Sinne ist jeder Mensch (alles!) absolut notwendig, weil sonst die Bibliothek nicht vollkommen werden kann – was sie, mit Verlaub, auch niemals wird, weil die Möglichkeiten der individuellen Existenz unerschöpflich sind. Im Bereich des Potentiellen, des nur Denk- und Vorstellungsmöglichen, bleibt die Bibliothek dem Relativen verhaftet, d.h. sie ist nur ein Ausschnitt, ein Fragment, das der Zeit, dem ständigen Fortschreiten und Sich-Verändern unterworfen ist.
Für das Individuum, das Subjekt, ist jedoch entscheidend, daß es von der bloßen Möglichkeit des Existierens zur tatsächlichen Existenz durchgedrungen ist und sich deshalb durch zwei Dinge gerechtfertigt sieht: durch seine Existenz und seine Einzigartigkeit. Was es mit beiden anfängt, liegt in seiner Hand (auch wenn die Rahmendaten seiner Geschichte gesteckt sind) – aber allein um des (hypothetischen) Lesers willen (der im Sartreschen Sinne jeder 'Andere' sein kann) hat das Individuum durch seine Existenz und Einmaligkeit die unausgesprochene Pflicht und Verantwortung, den Leser nicht mit einer Geschichte zu langweilen, die er schon 1000mal in ähnlicher Form gelesen hat. Und hierin liegt das Fröhliche und Lebensbejahende dieser Denkart: der Aufruf, die Bibliothek mit einer aufregenden und überraschenden Geschichte zu bereichern. Denn: Jeder Schreiber hat nur eine Chance!
Mit diesem (nachträglich von ihm so betitelten) "Manifest des Originalismus" hatte Lobensteins Denken wohl seinen Höhepunkt erreicht. In den folgenden Notizen finden sich dann bis zum Neujahrstag nur Schmähungen des Weihnachtsfestes, Klagen über zunehmende Verdauungsbeschwerden und Nebensächlichkeiten aus dem Freundeskreis (die hier ihrer Banalität und Relevanz hinsichtlich der Todesumstände Lobensteins wegen ausgespart bleiben sollen). In seinem Eintrag vom 1. Januar 1998 zeichnet sich jedoch bereits eine Krise in Lobensteins Denken ab, die sich in den folgenden zwei Tagen zunehmend zu verschärfen schien. Ich möchte dem interessierten Leser diese Aufzeichnungen nicht vorenthalten:
Donnerstag, 1. Januar 1998
Wir nehmen die Dinge um uns so selbstverständlich wahr, weil wir sie als bereits seit immer vorhanden wahrnehmen – ohne uns über den Moment und die Bedingungen ihrer Erschaffung bewußt zu sein: die erste Vase, der erste Stuhl, das erste Buch, Telefon, Auto etc. Der Moment des Ursprungs, der Idee, ist euphorisch, die Existenz fällt in die Geschichte zurück, ist starr und emotionslos. Nur durch Rezeption, durch Neu- und Wiedererschaffen (Re-Produktion!) erlösen wir das Erstarrte aus seinem Dornröschenschlaf. Das gilt gerade bei der Lektüre eines Buches: Wir erwecken den Autor, seine Gedanken zu neuem Leben, integrieren ihn in unsere eigene Geschichte, die im nächsten Moment selbst wiederum historisch wird. Heute ist Neujahr 1998 und ich erlebe diesen Tag. Bald ist er nur noch Erinnerung, Geschichte.
Umgekehrt ist es einfach notwendig, sich bewußt zu machen, daß unsere Kultur, unsere Normen und Werte nur einen Punkt auf der Zeitachse der Geschichte darstellen, die alles vorherige mittransportiert. Unsere Kultur ist insofern die Summe der Wirkungen, deren Ursachen irgendwo auf dieser Zeitachse verstreut sind. Da jede Entscheidung einen neuen Anfang bedeutet und alle anderen denkbaren Möglichkeiten dadurch eliminiert werden, entscheiden wir immer auch, wie sich die Geschichte weiterentwickeln wird. Insofern kann jeder Mensch Geschichte aktiv mitbeeinflussen etcblabla.
Ich wollte eigentlich nur sagen, daß nichts selbstverständlich ist, und daß alles, was ist, nur Wirkung von Ursachen ist. – Das ist keine weltbewegende Erkenntnis, sondern fiel mir gerade nur so ein (Ich bin, glaube ich, noch völlig besoffen!)
Samstag, 3. Januar 1998
Ich bin gefangen auf der Metaebene! Das, wovon ich glaubte, daß es mich freimacht, mich über die anderen stellt (mein abstraktes Denken, mein "Reflexionsvermögen"), macht mich in Wirklichkeit unfrei – weil es mich von der Realität abspaltet, mich nicht über sie stellt, sondern mich ihr unterordnet, meine Phantasie erwürgt, Kreativität unmöglich macht.
Friedrich Schlegel hat einmal geschrieben, daß Intelligenz nicht zu den Talenten eines Künstlers gehört – auch er blieb nur Theoretiker! Nietzsche wurde wahnsinnig – weil er die Kluft gespürt hat zwischen der Realität und den Sphären seines Denkens...
Der Philosoph ist krank, weil er mit dem denkbar ungeeignetsten Mittel sein Ziel verfolgt: die Vernunft zur Überwindung der Vernunft, zur Wiederherstellung des Gleichgewichts von Subjektivität und objektiv erlebbarer Wirklichkeit. Was der Mensch will, ist: das Zurückfallen in den Schoß der Natur, das Einswerden durch Ausschaltung des Bewußtseins. Gerade der Intellektuelle, der sich über dieses Ziel (und dessen Unmöglichkeit) "bewußt" ist, krankt und scheitert an seiner Realität. Er kompensiert den ihn bedrohenden Wahnsinn durch die Verlagerung seines Interesses auf den Bereich der Kultur (der "zweiten" Natur, wie es Cassirer formuliert). In diesem eigentümlich "menschlichen" Bereich gibt es für ihn jedoch nur zwei Möglichkeiten: die wissenschaftlich-theoretische und die künstlerisch-praktische, bzw. den Konfliktfall Thomas Mann zwischen Künstler und Bürger (also zwischen dem Produzenten und dem Rezipienten). Nietzsche, der Bürger, ist auch hier gescheitert – trotz seines gewaltigen und bedeutsamen Werks, in dem sich sein Geist in den "Weltgeist" eingespeist hat und den "Menschen" Nietzsche noch über Generationen hinweg überdauert... Was in der Natur verloschen ist, lebt in der Kultur fort – sehr zum Bedauern unserer Feinde...
Die Frage, die ich mir nun stelle, ist, wo ich in all diesen Objektivationen des schaffenden, systematisierenden Geistes meinen Platz finden soll – bin ich Künstler oder Bürger oder Nichts?
Es geht mir um einen Absprung vom Karussel meines Denkens – einem Denken, das immer nur zu Nullpunkten führt, weil es in einem Bereich umherirrt, der per se nicht existiert: dem Labyrinth der Metaphysik! Mit anderen Worten: Ich kann nur frei sein, nur kreativ und produktiv, wenn ich die Wirklichkeit als Maßstab nehme, wenn ich Lust am Alltäglichen entwickle, wenn mich die Banalität nicht mehr schmerzt (noch beleidigt!) – kurz: wenn ich anfange zu leben, mit Haut und Haaren, mit Sinn für die Welt. Die Metaebene ist unproduktiv (für die Künstler), sie taugt nicht für die Poesie!
Montag, 5. Januar 1998
Ich denke, ich muß "Rechenschaft" ablegen über die "Erkenntnisse" der letzten Tage! Zunächst ist mir meine "Normalität" schmerzlich bewußt geworden. Normalität in dem Sinn, daß ich festgestellt habe, mich kaum von anderen zu unterscheiden. Mir ist klar geworden, daß die großen "Erkenntnisse", die ich immer zu haben glaubte, aus einer gewissen Rückständigkeit hervorkamen, die mir meine Sozialisation (im weitesten Sinne) auferlegt hat. Plötzlich war ich umgeben von Menschen, die die "großen Worte" so "gelassen" aussprachen – gelassen, weil es für sie Selbstverständlichkeiten waren, die ihrer Sozialisation immanent waren.
Ich mußte mir diese "Selbstverständlichkeiten" erst erarbeiten, weil meine Erziehung so dogmatisch war. Mein Weg zur "Freiheit" (die keine ist, weil sie ein ständiger Kampf gegen die mir anerzogenen Werte ist und damit ein Gefesseltsein an Altlasten) ist ein schmerzlicher. Mein Kampf um die Freiheit wird deswegen ein ewiger sein – und ein vergeblicher: denn solange ich kämpfe, bin ich unfrei, und selbst wenn ich nicht kämpfe, klebt die Unfreiheit an mir! Ein trauriges (und absurdes) Schicksal!
Jedenfalls habe ich meine Exklusivität verloren – und mit ihr mein Recht auf Arroganz und Künstlertum. Ich habe festgestellt, daß jeder zweite eher einen Roman schreiben könnte als ich! Weil ich nicht erzählen kann und weil ich nicht frei bin. Ich habe mein Schreiben immer als Selbstfindung gesehen, als Ausdruck meines Denkens. Da dieses Denken nun ein bedauerlich kleinbürgerliches ist (eben weil sein Ziel die Überwindung alles Kleinbürgerlichen ist), schäme ich mich zu schreiben. Jeder geistige Inhalt erscheint mir jämmerlich und klein, da alles das, was mir wichtig und bedeutsam vorkam, sich jetzt als für die meisten Selbstverständliches erweist. Ich habe nichts mehr zu sagen! Mir ist die Basis entrissen, auf die ich jahrelang alle meine Hoffnungen gebaut habe.
Ich muß vor mir gestehen, daß (da ich psychisch absolut passiv konstituiert bin) ich nicht für die Produktion, sondern nur für die Rezeption (die Re-Produktion!) geschaffen bin. Jedoch selbst hier bin ich nur Mittelmaß, selbst hier fehlt mir jede Begabung. Wenn ich Bücher lese (ich hasse lesen!), Filme sehe, entgeht mir die Hälfte des Sinns, weil mein Geist nur passiv das Geschehen verfolgt. Mein Denken ist platt, und ohne explizite Verweise fallen mir keine Nuancen oder tiefere Sinnschichten auf. Diese ganzen Erkenntnisse der letzten Zeit laufen alle auf einen Punkt hinaus: meine Banalität! Eine Tatsache, die ich immer geahnt hatte, jedoch stets geflissentlich versteckt: in übertriebenem Intellektualismus, in mittelmäßiger Musikalität oder trivial-künstlicher "Literatur"-Produktion. Mit Eco und Borges nun wurde mir der Todesstoß versetzt: auf grausame Weise wurde mir meine Mittelmäßigkeit vorgehalten, meine Faulheit, mein Defizit. Ich fühle mich wie Gregor Samsa, jener ungeheure Käfer aus Kafkas Erzählung, der sich plötzlich wie verwandelt fühlt, weil er seine Unschuld, seine Naivität eingebüßt hat. Ich liege hilf- und wehrlos auf dem Rücken (meinem bisherigen Panzer) und zappele mit meinen Beinchen in der Luft.
Ich hatte vor kurzem geschrieben (auch eine Erkenntnis dieser Reihe), man könne mich nur aus Mitleid lieben. Ich dachte zuerst auch aus Faszination – aber wer von mir fasziniert ist, hat mich nur noch nicht durchschaut, bloßgelegt. Von daher ist diese Liebe nur eine Liebe auf Zeit: bis zum Zeitpunkt der Ernüchterung. Wer mich aus Mitleid liebt, liebt mich für meine angestrengten Versuche, meine Banalität zu überwinden, mit anderen Worten: für meinen Versuch, "Mensch" zu werden! Wenn ich diesen Ehrgeiz nun fallenlasse (aus der im vorigen geschilderten Peinlichkeit, daß selbst dieser "Mensch", das Endprodukt meiner Bemühungen, etwas Banales ist), wer wird mich dann noch lieben? Der "Mensch"?
Mit diesem Eintrag enden seine Tagebuchaufzeichnungen. Bis zu seinem Tod am 22. Januar 1998 wurde er von niemandem mehr gesehen. Man fand ihn nackt in seiner Wohnung, mit einem kurzen Strick um den Hals, der an der Türklinke seines Schlafzimmers befestigt war. Da in seinem CD-Player eine CD von INXS gefunden wurde, mutmaßte man, daß er den Tod von Michael Hutchence nachstellen wollte, der exakt drei Monate vorher, am 22. November 1997, in derselben Pose in einem Hotel in Sydney gefunden wurde. Aus seinen Notizen geht hervor, daß Lobenstein in den letzten Tagen seines Lebens an einem "Lexikon der Chimären" arbeitete, das alle Worte aufführen sollte, "die Dinge bezeichnen, die es eigentlich nicht gibt".
Unter "L" fand ich seinen eigenen Namen.