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50er-Jahre-Sessel (1992)

Angenommen Sie säßen in Ihrem Wohnzimmer in einem 50er-Jahre-Sessel und läsen eine Geschichte, die irgendwer, nur aber nicht Sie, geschrieben hätte, nichtsahnend, daß Sie sie irgendwann in einem 50er-Jahre-Sessel in ihrem Wohnzimmer einmal läsen, und angenommen dieser Jemand, der diese Geschichte geschrieben hat, ist der gleiche, der auch die Geschichte geschrieben hat, die Sie gerade lesen und weiter angenommen auch die Geschichte, die Sie gerade lesen, sei die Geschichte, die Sie läsen, säßen Sie in Ihrem Wohnzimmer in einem 50er-Jahre-Sessel, und angenommen, alles träfe gerade zu, wären Sie dann nicht irgendwie verblüfft, wie vorhersehbar die Welt ist und daß selbst ein billiger Autor, wie ich einer bin, so elitäre Dinge vorhersehen kann, und weiter und um realistisch zu bleiben – angenommen das alles trifft überhaupt nicht zu, zumindest nicht alles gleichzeitig, und Sie haben womöglich gar keinen 50er-Jahre-Sessel, zumindest nicht in Ihrem Wohnzimmer, oder aber im Extremfall haben Sie wirklich keinen oder aber haben einen und wissen es nur nicht oder wissen nur nicht, daß es einer ist, den Sie da haben, oder sind noch am Zweifeln und eigentlich wäre es Ihnen viel lieber, Sie hätten keinen und zumindest nicht diesen, allenfalls einen anderen oder gar einen 60er-Jahre-Sessel oder einen ganz modernen, vielleicht ist Ihnen ein Sofa oder ein Bett viel lieber und Sie hassen Sessel, nicht war, das tun Sie doch bestimmt, Sie hassen Sessel und ganz besonders 50er-Jahre-Sessel, wahrscheinlich sitzen Sie gerade in einem, wenn auch nicht in Ihrem Wohnzimmer, vielleicht im Kaminzimmer, und Sie versuchen sich die ganze Zeit schon einzureden, es sei gar keiner, Ihr 50er-Jahre-Sessel sei gar keiner, sei kein 50er-Jahre-Sessel, sondern ein 60er-Jahre-Sessel oder ein Sofa, ein 60er-Jahre-Sofa, alles nur kein 50er-Jahre-Sessel und im übrigen wollen Sie gerade gar nichts lesen, vor allem nicht diese Geschichte oder eine andere mit 50er-Jahre-Sesseln oder Sesseln und Sofas im allgemeinen, eigentlich wollen Sie nicht daran erinnert werden, daß Sie in einem 50er-Jahre-Sessel sitzen, wo doch ein 60er-Jahre-Sessel oder ein Sofa oder ein moderner Sessel, alles, nur kein 50er-Jahre-Sessel, weitaus bequemer oder schöner oder passender oder sonstwas wäre und Sie doch 50er-Jahre-Sessel hassen und ganz besonders diesen, diesen, in dem Sie gerade sitzen, ein Erbstück Ihrer Tante wahrscheinlich, Sie konnten sie nicht leiden, Ihre Tante, konnten sie aufs Messer nicht ausstehen, Ihre Tante, und dann hat Sie Ihnen ihren 50er-Jahre-Sessel vererbt, aus Rache, dachten Sie, und deswegen hassen Sie ihn, ihren 50er-Jahre-Sessel, obwohl Sie ihn doch eigentlich ganz schön finden, aber die Tatsache, daß der Sessel von der verhaßten Tante stammt, wofür er doch eigentlich gar nichts kann, macht ihn bei Ihnen verhaßt, nicht wahr, Sie hassen ihn doch nur deswegen, und deswegen, weil Sie ihren 50er-Jahre-Sessel hassen, hassen Sie auch alle anderen, aus Prinzip sozusagen, sozusagen, weil Sie nicht fähig sind zuzugeben, daß Sie Ihren 50er-Jahre-Sessel eigentlich ganz schön fänden, stammte er nicht von der Tante, und Angst haben, jemand könnte nach der Tante fragen und weswegen Sie sie gehaßt haben und dann käme die ganze alte Geschichte wieder hoch, mit Ihrer Tante und ihrem Sohn, Ihrem Vetter, mit dem Sie sich in den Ferien, wenn Sie bei Ihrer Tante zu Besuch waren, immer nur geprügelt haben, und er doch sonst immer so brav und überhaupt nicht aggressiv war, und Ihre Tante hat immer sofort gewußt, wohin der Hase läuft, und daß Sie ihren Sohn, Ihren Vetter, immer als Prügelknabe genommen haben, weil zuhause sonst immer nur Sie der Prügelknabe für die anderen waren, die in den Ferien zu Besuch kamen und sich deswegen an Ihrem Vetter gerächt haben, der nicht nur schwächer, sondern auch kleiner war, größenmäßig wie alters-mäßig, und Ihre Tante hat das ihrer Schwester, also Ihrer Mutter, gesagt, verpetzt hat sie Sie, was Sie ihr nie verzeihen konnten, und dann ist sie auch noch so früh gestorben und sie, Sie und Ihre Tante, konnten sich nicht mehr aussprechen und versöhnen vor ihrem Tod, dem Tod Ihrer Tante, und also blieb der Haß und also können Sie den 50er-Jahre-Sessel nicht ausstehen, den Ihnen Ihre Tante vererbt hat, und deswegen wolen Sie auch nicht daran erinnert werden, daß Sie gerade darin sitzen, während Sie hier lesen und nebenbei den Sessel Ihrer Tante hassen und allmählich auch meine Geschichte hassen, die eigentlich keine ist, was aber hier nicht zur Diskussion steht, nicht wahr, Sie hassen meine Geschichte, weil alles so wahr ist, so als ob ich dabei gewesen wäre, oder weil alles ganz anders war und Sie diese Geschichte gar nicht betrifft, weil Sie Ihre Tante, die kinderlos ist und noch lebt, sehr lieben, was für Sie beide sicher sehr schön ist, mir aber für meine Geschichte keinen Vorteil verschafft, grob gesagt, was mir einen Scheißdreck bringt, und außerdem geht es mir auf die Nerven, daß ich ständig daneben-liege, was das Geschichtenausdenken betrifft, und Sie sind jetzt sicher auch vollkommen gereizt und finden meine Geschichte scheiße, weil sie nicht wahr ist, weil Sie damit nichts anfangen können, weil die Geschichte mit Ihnen nämlich gar nichts zu tun hatte und Ihnen für Ihr weiteres Leben überhaupt nichts bringt, weil Sie sicher gar keinen 50er-Jahre-Sessel besitzen und auch kein Wohnzimmer – Sie sind sicher Waise und obdachlos und lesen einen weggeworfenen Papierfetzen unter einer Eisenbahnbrücke und draußen fängt es allmählich an zu regnen und es dämmert bereits, was anzunehmen ist.