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Die Langeweile des jungen W. (1990)

Umhertollend im Kinderreigen, Maiglöckchen zu Kränzen geflochten, kronenhäuptig: ein Schwarm Kinder, stockflüchtig, ihren Tanz vollführend. Ein bewegungsreiches Bild inmitten einer still verharrenden Fülle aus gelben weißen blauen Tupfen und grünem Grund. Als Dreingabe Charlotte oder ihr Ebenbild, barfüßig, sich im Kreise drehend.

Noch ganz in den Zeilen versunken, das Anachronistische festkrallend mit blaßwidrigen Greifern: mein Ich. Es steht am geöffneten Fenster, wie jeden Morgen, wie immer am Anfang eines Textes, beobachtet, mit den Augen, lauscht, mit den Lauschern, trommelt nervös und entspannt in harmonischer Abwechslung auf die Fensterbank oder den Holzrahmen, das alles mit der Rechten, schreibt, in krakeliger Frühstücksschrift, mit der Linken. Rastlos schlaftrunken. Müdwach.

Sie: Allegorie der verwirklichten Harmonie.

Es: Allegorie der krankhaften Anspannung, nach eben jener suchend.

Die Sprache wäscht sich nicht aus dem Gehirn. Das Gehirn: fixiert auf das Fremdartige einer fremdartigen Syntax, der Legitimation des Textes.

Dem Pathos das Stimmrecht rauben, sich konzentrieren auf das Neue: Den Pathos zukotzen, wegkotzen, Platz schaffen für die Idee der Nüchternheit und damit den Zugang zur Langeweile:

Stephanus: nicht mehr Bild des Märtyriums: Gottheit der Langeweile.

Derpfeilderpfeileiltpfeifendeiferndeinpfahleinpfeilimfleischzusein.

Es ist das Wissen um diesen Satz, das Wissen um die Gewißheit des Eintreffens sowohl dieses Satzes als auch des Pfeils, der bis zum Eintreffen des Todes sowie des Wissens um den Tod bei Opfer und Schütze, sowie des Wissens um das Eintreffen des Satzes, der Gewißheit des Eintreffens des Satzes, ermöglicht durch das Eintreffen des Pfeils oder besser der Pfeile sowie des Todes, der Konsequenz des Wissens um das Eintreffen des Todes bei Eintreffen des Pfeiles und so fort ist. Alles das Wissen verfolgt nur ein Ziel: das Eintreffen der Langeweile, nicht des Todes, der nur Konsequenz ist – man sagt: sich zu Tode langweilen.

Stephanus also, die Langeweile in sich aufsteigen fühlend, kalt und dämonisch mit jedem Einschuß, jeder Konzentration des Schmerzes, jeder Distribution der Schmerzzentren, jeder Verlagerung des Hauptschmerzes – Stephanus, den Pfeil im Fleische, das Fleisch am Pfahle, den Pfeil im Pfahle, den Pfahl im Fleische.

Stephanus, in Erwartung des Endgültigen, Unvermeidbaren.

Stephanus: abkühlend – in der Langeweile des Wissenden.

Des Wissenden um die Verkettung der Zufälle zu einem Strang mit Schlinge am unteren Ende. Des Wissenden um die Berechenbarkeit des Nächsteintretenden: Die sich müdzuckenden Mundwinkel der Absehbarkeit: sich leerzuckend, sich entzuckend, sich zu Tode zuckend. Der Schmerz dabei nur Seismograph der Langeweile. Der Todesschuß dabei nur Niederlage der Langweilenden.

Charlotte oder ihr Ebenbild tanzt noch immer, dreht sich noch immer im Kreise, kreist noch immer im Tanz, ahnend der Wiederholungen, denen sie zugrunde liegt. Anders die Kinderschar: laut anteilnehmend an der Wiederholung des kreiselnden Tanzes, des tänzelnden Kreisels, dort, am Ort, wo Klang und Gleichklang verschmelzen, wo Wort und Sinn sich nicht einende Einheit sind, widerstrebend ihrer Natur.

Sie: Allegorie der nicht langweilenden Wiederholung.

Mein Ich, das am Fenster beobachtende, lauschende, der Wiederholungen müde und der Wiederholungen müde ergebene, schaut – sagen wir – fasziniert auf das Schauspiel der nicht langweilenden Wiederholung.

Es: damit Allegorie der Faszination der nicht langweilenden Wiederholung und damit Hoffnungsträger des Absurden.

Daneben: Stephanus, die Gottheit der Langeweile, die Thesen der Langeweile anschla-gend, nicht fünfundneunzig, nein, weniger:

Die Langeweile ist das Zusammentreffen einer Flut von Möglichkeiten mit einer Ebbe an Interesse.

Die Langeweile ist das Höchstmaß an Lust und das Mindestmaß an Entschlossenheit, diese zu nutzen.

Die Langeweile ist das Produkt eines inneren Widerspruchs, resultierend aus einem Mißverhältnis körperlicher Angespanntheit und geistiger Spannungslosigkeit.

Die Langeweile ist paralysierendes Element eines Zustandes im Kopf oder darunter.

Die Langeweile ist die Trägheit der Wiederholung.

Die Langeweile ist die Erlebnisstarre, herrührend aus einer Müdigkeit und gleichzeitigen Schlaflosigkeit des Geistes.

Langeweile: wenn meine Existenz über mein Interesse an meiner Existenz hinaus dauert.

Langeweile: der Tod innerhalb dieser Differenz.

Langeweile: das ermüdend häufige Auftauchen des Wortes 'Langeweile'.

Langeweile: die um die Ecke lauernde, auf dem Bauch kriechende, doppelzüngige, ewig tätige, alles zersetzende.

Schnitt. Mein Ich und Charlotte und die Schar der Kinder um Charlotte oder ihr Ebenbild, aber in aller Beständigkeit mein Ich. Mein Ich, das sich sagt, daß es noch nichts zu sagen gibt, nicht an dieser Stelle, nicht mit traditionellen Worten, auch nicht losgelöst von der Tradition des Wortes und der Tradition des Wortes 'Tradition', falls es eine solche geben sollte und, falls es sie geben sollte, es auch dazu nichts zu sagen gibt, weil es noch zu früh dazu ist.

Etwas zu sagen, wäre jetzt übereilt...

Mein Ich, das sich jetzt sagt, zu handeln, nichts aber zu sagen, nur zu handeln, als Allegorie, verstehen Sie das nicht falsch: handelt.

Es schleicht sich als wilde Bestie, schneidezähnebleckend, voran voran durchs wilde Gras, hat seinen Spaß, das Maul sich schleckend, doch Spaß beseit, zum Sprung bereit, die Schar erschreckend, Charlott bedeckend und niederstreckend, die Bestie speit – den Kopf ins Gras.

Nur allegorisch das. Wir merken uns daher:

Sie: Allegorie der verwirklichten Harmonie, der nicht langweilenden Wiederholung.

Es: Allegorie der krankhaften Anspannung, nach Harmonie suchend und der Faszination der nicht langweilenden Wiederholung erliegend.

Sagt Stephanus: "In dubio pro reo!"

Doch die Sachlage ist klar. Mein Ich gestand seine Schuld, sein Neidertum, seine Mordgelüste, ahnte das Folgende schon im Anfang, am Fenster stehend, in den Zeilen eines Romans verharrend, noch morgens erstarrend vor der Anmut des Geschriebenen, in ewig dünkelnder Langeweile. Und Stephanus, sich in Langeweile auflösend, noch einmal ruft:

Derpfeilderpfeileiltpfeifendeiferndeinpfahleinpfeilimfleischzusein.