Sie wollen wissen, wie dieser Roman beginnt? Natürlich, als Leser haben Sie ein Recht darauf. Und ich soll Ihnen etwas erzählen, eine Geschichte mit Handlung, einer anspruchsvollen Handlung, einer nichtigen Handlung, Sie wollen wissen, wie es hier drin aussieht er legt eine Hand aufs Herz und wollen meine intimsten Gedanken er tippt sich gegen die Stirn kennen, gehe ich recht in der Annahme, das wollen Sie doch, wollen sich unterhalten fühlen oder geistreich umspielt oder einfach die Zeit totschlagen mit ein wenig Lektüre, Lektüre, die die Langeweile vertreibt und von der Sie animiert werden, ohne selbst etwas zu tun, außer das Gedruckte zu lesen, nicht wahr, Sie wollen dieses Buch nur konsumieren, ohne selbst etwas dazu beizutragen, wollen mir die Arbeit überlassen und sich das Vergnügen gönnen. Aber so läuft das hier nicht! Sie werden mir dabei helfen müssen, dieses Buch zu schreiben. Stellen Sie sich bitte jetzt eine Landstraße vor und einen Mann, der auf ihr entlanggeht. Los, los, nicht so zaghaft. Das ist wichtig für die Handlung. Wenn Sie es nicht tun, können wir gleich hier aufhören. Ich brauche Ihre Vorstellungskraft. Ein Mann geht auf einer Landstraße. Sie brauchen noch ein paar Stichworte? Na gut, Sie sind noch Anfänger. Also, es ist ein junger Mann, nein, vielmehr ein älterer, halt, so alt nun auch wieder nicht, machen Sie ihn noch ein bißchen jünger, noch ein wenig, ja, so kommen wir der Sache schon näher. Sehen Sie, der Mann, von dem ich spreche, der, den ich mir vorstelle, ist etwa dreißig. Das ist nicht alt? Na, dann eben nicht. Ich muß ja schließlich von mir ausgehen und ich bin einundzwanzig. Die Landstraße, es handelt sich um eine schmutzige Landstraße mit vielen Schlaglöchern, wie wir später noch sehen werden, keine mit Pfützen oder überfahrenen Igeln. Es ist mir gleich, denn es ist unwesentlich, wann diese Geschichte spielt, wann Sie sie spielen lassen wollen, zu welcher Jahreszeit, wobei mir Herbst am besten gefiele, das ist aber nur eine persönliche Vorliebe, Herbst, eine Straße mit Mann, das paßt gut zusammen, ist beinahe schon klassisch. Ich möchte Sie nicht bedrängen, bitte, es kann auch Winter oder Sommer sein, Frühling auch, wirklich, lassen Sie es Sommer oder Frühling oder Herbst, meinetwegen auch Winter sein, aber keine Pfützen. Streiten wir besser nicht über den Tag. Auch das Jahr, das Jahr, in dem die Geschichte spielen soll, es ist mir gleichgültig, es muß aber in diesem Jahrhundert sein, weil später oder gleich noch ein Lastwagen darin auftauchen soll, jedenfalls würde ich gerne einen auftauchen lassen, natürlich, wenn Sie damit nicht einverstanden sind, ich meine, Sie können jederzeit dieses Buch wieder zuklappen und ins Regal stellen oder wegwerfen, das bleibt Ihnen überlassen, ist Ihre ganz persönliche Freiheit. Die Literatur ist keine Diktatur. Also, lassen Sie den Roman meinetwegen in den 30er Jahren spielen, oder in den 50er, 60er, 70er oder auch heute oder morgen oder in tausend Jahren, wenn Sie sich einen Mann auf einer Landstraße, auf den ein Lastwagen zufährt, in tausend Jahren vorstellen können, wenn Sie das können, bitte. Wir haben noch immer erst drei Requisiten für unsere gemeinsame Geschichte, das sind aber nur Begriffe, Gegenstände ohne jede Plastizität, ohne Charakter. Ich habe Ihnen drei Worte vorgegeben, die Sie in Ihrer Phantasie entwickeln sollten, aus den Worten sollten Bilder vor Ihrem inneren Auge entstehen. Sie können sich doch in etwa vorstellen, wie ein Lastwagen aussieht, so mit einer Plane über der Ladefläche, großen Rädern und abgetrennter Fahrerkabine, so ein kleiner Laster, wie ihn die Gemüsehändler benutzen, um Salatpaletten oder Zwiebel- und Kartoffelsäcke auf den Markt zu transportieren. Sie dachten wohl an einen Truck, der über einen einsamen Highway durch eine Wüste in den Staaten rattert, durch Nevada, und dann an diese Straße am Anfang von My private Idaho, aber dieser Mann, der auf unserer Landstraße landstreicht, ist auch nicht River Phoenix und hat auch keine Ähnlichkeit mit James Dean. Er ist vielmehr häßlich oder besser: ganz normal, genauso wie diese Landstraße kein vierspuriger Highway ist, der durch irgendwelche Wüsten führt, sondern eine alte, schlecht geteerte Straße über Land, ohne Pfützen und was sonst noch zum Herbst gehört. Eine ganz gewöhnliche, unscheinbare Überlandverbindung, gewöhnlich und unscheinbar wie der etwa dreißigjährige Mann, der sie begeht. Natürlich ergibt sich auch hier wieder das Problem, daß Sie sich diesen Dreißigjährigen ganz anders vorstellen als ich. Ich weiß nicht, ob Sie bereits die Übersetzung dieses Romans in Händen halten oder die Originalfassung lesen, denn, angenommen, Sie sind Chinese, dann stellen Sie sich diesen Mann weitaus chinesischer vor, als er eigentlich ist. Das gilt auch für Sie als Koreaner, Araber, Ghananese, Pakistani, Eskimo oder Mongole. Sie liegen alle ganz falsch in Ihrer Vorstellung dieses Mannes. Dieser Mann ist tatsächlich Deutscher, er hat... Aber sehen Sie selbst. Ich habe mir erlaubt, ein paar Männer, Deutsche wahrscheinlich, zu photographieren, die meiner Vorstellung dieses Mannes sehr nahekommen, denn ich kann ihn mir auch nur vorstellen, er existiert ja nicht wirklich er deutet auf das erste Photo. Die Augen und die Gesichtsform. Es ist der Ausdruck dieser Augen, bezeichnen Sie ihn, wie Sie wollen, der dem meiner Phantasiegestalt gleicht. Es sind auch die Stirnfalten, die dem ähnlich sind. Das Kinn, die Haut, wenn man von Haut sprechen darf bei einer Photographie. Es sind die gleichen Backenknochen. Aber irgendwie ist diese Figur doch ganz anders, hinterläßt einen Eindruck, der sich meinem Dreißiger vollkommen widersetzt. Vielleicht kommt er Ihrem Vorstellungsbild doch sehr entgegen, aber wir, Sie und ich, müssen übereinstimmende Vorstellungen haben, sonst entwickelt sich die Handlung womöglich in eine ganz falsche Richtung. Betrachten wir das nächste Photo er deutet auf das zweite Photo. Der hier hat eigentlich keine Gemeinsamkeiten mit meinem Mann. Die Haltung und Stellung der Augenbrauen vielleicht er deutet auf das dritte Photo. Das Wirre der Haare gefällt mir bei dieser Person besonders gut und ich denke, daß wir unserer Hauptperson diesen Schnitt verpassen. Das bietet sich zudem auch für die gesamte Konzeption an. Und noch noch ein letztes Photo er deutet auf das vierte Photo. Beachten Sie dieses Ohr! Geradezu geschaffen, um in unsere Geschichte einzugehen. Es ist das beste Photo von einem Ohr, das mir jemals untergekommen ist. Phantastisch gut getroffen! Wir brauchen solche Ohren und... der Bart, ja, den Bart nehmen wir am besten gleich noch dazu. Ich meine, ein Mann, der auf einer Landstraße im Herbst oder im Winter oder Sommer und meinetwegen auch im Frühling, ohne Pfützen, vergessen Sie nicht, auf der Straße gibt es keine Pfützen, das ist zwar unwichtig, aber irgendwie muß ich ja eine nähere Beschreibung dieser Landstraße abgeben, ich kann nicht einfach nur sagen: eine Landstraße, das würde mir jeder übel nehmen und außerdem sollen Sie sich die Szenerie auch vorstellen können, und den Mann, der da entlanggeht, seit längerer Zeit mittlerweile, zu dem paßt doch ein Bart, und dann ein solch schöner, ein wirklich schönes Exemplar. Aber belassen wir es dabei. Diese Beschreibung ist wohl ausreichend. Überlegen wir uns nun, denn allmählich wäre es angebracht, was in dieser Geschichte passieren soll. Machen Sie mir ein paar Vorschläge, was Ihnen vorschwebt, Ihnen schwebt doch etwas vor, Sie haben doch sicherlich schon genügend Ideen gesammelt, bevor Sie unser gemeinsames Buch gekauft und aufgeschlagen haben. Wir können ja ganz unten anfangen, Sie sollen diese Geschichte schließlich nicht alleine schreiben, ich bin doch auch noch da, kooperieren wollen wir schon, und außerdem werde ich dafür bezahlt, so tut jeder das Seine und gemeinsam werden wir's schon schaffen. Welches Genre stellen Sie sich denn vor? Welche Art Literatur sollen wir denn produzieren? Eine Liebesgeschichte, einen Krimi, Horror, Science Fiction, etwas Triviales, nein, besser nicht, für Trivialliteratur werde ich schlecht bezahlt, machen wir etwas anderes. Es ist Ihnen egal? Wirklich? Ja, haben Sie wenigstens Ideen mitgebracht? Auch nicht? Tja... er kommt sichtlich in Verlegenheit, anscheinend hat er selbst keine Idee, irgendwie wird er wohl versuchen, sich aus dieser mißlichen Situation herauszuwinden, auch wenn er gerade ein äußerst dämliches Gesicht zieht dann lassen Sie mich doch einfach irgendeinen Anfang, also nur als Vorschlag natürlich, ich erzähle einfach darauflos. Passen Sie auf: Der Lastwagen, der die Straße entlangfährt, hält bei dem Mann, unserem Dreißigjährigen, der übrigens die ganze Zeit, seit wir ihn in unsere Handlung eingebaut haben, bei jedem Auto, und es kommen nicht viele vorbei auf dieser Landstraße, im Winter zudem noch weniger, weil hier nicht geräumt wird, also, wenn Sie unsere Geschichte im Winter spielen lassen, dann sind bisher vielleicht zwei oder drei vorbeigekommen und die waren dann sicher voll besetzt, weil die Leute im Winter und besonders in dieser Region Fahrgemeinschaften bilden oder auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen, im Sommer ist das ganz anders, dann trifft man mehr Fahrradfahrer oder Motorräder, jeder benutzt dann wieder seinen eigenen Wagen, wenn er einen hat und wenn er den Winter heil überstanden hat, die Straße wird ja nicht geräumt im Winter, und im Herbst und im Frühling ist die Fahrbahn meist naß, das Wasser steht dann auf der Staße und sammelt sich in Pfützen, aber es ist ja trocken im Moment und wir wollten ja keine Pfützen, dies nur zur Verkehrslage und wenn Sie wollen, können Sie davon auch Schlüsse auf die Infrastruktur ziehen, was aber für den weiteren Verlauf der Geschichte bestimmt unwichtig ist, aber Sie dürfen darauf natürlich gerne noch eingehen, später, wenn Sie dran sind, jetzt suche ich uns erstmal einen Anfang. Was ich sagen wollte, unser Dreißiger, für den wir noch keinen Namen ausgesucht haben, den wir uns aber immerhin facettenhaft vorstellen können, wartet zu irgendeiner Jahreszeit auf ein Auto, das ihn mitnimmt und je nach Jahreszeit fahren nun mehr oder weniger viele vorbei, ohne zu halten. Irgendwann taucht unser Lastwagen am hinteren Horizont, also der Seite des Horizonts, die unser Wanderer nicht sieht, weil er in die entgegengesetzte Richtung horizontwärts geht, auf und hält. Die Tür wird von innen einen Spalt geöffnet, die Hauptperson springt auf das Trittbrett auf und versucht, hineinzusehen, aber die Scheiben sind seltsam getönt und leicht verspiegelt, so daß er seit Tagen zum ersten Mal wieder sein ungeplegtes, stoppeliges Gesicht sieht. PLÖTZLICH wird er von einem GEWALTIGEN Sog erfaßt, der ihn ins Innere des Wagens schleudert, wo er halb betäubt und mit einem Gefühl wie nach zehn Runden ACHTERBAHN LANGSAM UND VORSICHTIG seine Augen öffnet, die er wahrscheinlich während des Eingesaugtwerdens geschlossen hielt, warum auch immer. Es war UNGLAUBLICH, was er dort zu Gesicht bekam: MINTFARBENE KNETMÄNNCHEN musterten ihn aus ROSAVIOLETTEN OBJEK-TIVEN, BLUBBERNDEN AUSSTÜLPUNGEN des DERMOPLASMAS, und berochen ihn mit ELEPHANTENARTIGEN RÜSSELN, beugten sich zu ihm herab und KÜSSTEN SEINE KNIE, das ganze DUTZEND, wie bei SYNCHRON-SCHWIMMERN, gleichmäßig DERSELBEN CHOREOGRAPHIE FOLGEND. Ich würde sagen, die Knetmännchen finden Gefallen oder Geschmack an dem Burschen, entführen ihn auf ihren Planeten, wo sie ihn auf einer pittoresken Südseeinsel unter Palmen und mintfarbenen Lolitas zurücklassen, um noch mehr Menschen auf ihren Planeten zu entführen. Weswegen der Einwand kommt vom Autor sie das tun? Ja stimmt, eine gewisse Motivation für diese Nächstenliebe sollte schon gegeben sein, schließlich nimmt uns das keiner ab, nicht einmal die Amerikaner, daß die das aus freien Stücken tun und schon gar nicht, wenn wir behaupten, es seien Marxisten oder Christen in spe. Verlegen wir uns doch darauf: die mintfarbenen Knetmännchen brauchen menschliche Männchen oder besser: männliche Menschen, Mann, Menschenmänner oder Menschensöhne, das hat nichts mit Christus zu tun, die ihre mintfarbenen Lolitas begatten, weil sie selbst durch Genmutation und Selektionsmaßnahmen impotent, bzw. infertil geworden sind. Gefällt Ihnen nicht, so, totaler Quatsch, sagen Sie dem schließt sich der Autor offenkundig an lassen Sie sich doch etwas Besseres einfallen. Bisher haben Sie ja noch nicht viel zu unserer Geschichte beigetragen. Sie legen die typische Leserhaltung an den Tag, wie die meisten anderen, mit denen ich bisher kooperieren wollte. Nein, das mit den Christen kommt gar nicht erst in Frage. Der Kommunismus ist bereits untergegangen und das Christentum braucht wahrscheinlich auch nicht mehr lange. Es bringt auch nichts, wenn wir behaupten, daß die Außerirdischen in religiösen oder ideologischen Angelegenheiten noch zurückgebliebener sind als wir, wer will denn so etwas Rückständiges lesen, dann könnten wir ja gleich einen Roman über die Azteken schreiben oder was Feministisches über irgendwelche Amazonen, die männermordend bis nach Lutetia vordringen und unterwegs eine Landstraße ohne Pfützen überqueren, auf der ein dreißigjähriger Mann von einem Lastwagen mitgenommen werden soll, der mittlerweile schon seit Minuten beabsichtigt, unseren jungen Tramper einsteigen zu lassen, wenn er nicht schon abgesoffen ist, der Motor, was ich befürchte, wenn man berücksichtigt, daß er noch gar nicht richtig warm war, als wir den Laster in die Handlung eingeführt haben. Der Stoff wäre höchstens für eine exzentrische Satire auf die Menschheit geeignet. Vielleicht wird darüber ja irgendwann einmal etwas geschrieben. Ein neuer Anfang also. Die Scheiben sind nicht getönt, dafür ist das Trittbrett ziemlich durchgerostet. Unser Mann steigt deshalb schnell ein, um nicht durchzubrechen. Drinnen sitzt eine WUNDERSCHÖNE BLONDINE mit SANFTEN, BLAUEN AUGEN und SCHMACHTENDEM BLICK, dem unser Freund kaum widerstehen kann. Sie fahren ein Stück auf der Landstraße und unterhalten sich kurze Zeit später über SEX. Es kommt in dem Gespräch heraus, daß sie bereits JEDE MENGE ERFAHRUNGEN gesammelt hat, während er noch JUNGFRAU ist. Die Frau findet diese Tatsache HÖCHST BEDAUERLICH UND ERREGEND ZUGLEICH und kann sich und den Lastwagen kaum noch halten, den Lastwagen auf der Straße und sich, unseren jungen Freund nicht zu vernaschen und ihm seine letzte UNSCHULD zu rauben. Da hätten wir sogar etwas mit TIEFGANG, wenn wir das ganze auf eine psychologische Ebene bringen: WAS REIZT EINE ERFAHRENE FRAU AN EINEM JUNGFRÄULICHEN MANN? Sie fährt also rechts ran und... Was, das geht gegen Ihre ethisch-moralischen Grundsätze? Das darf doch wohl nicht wahr sein! Wollen Sie mir helfen, eine Geschichte Zwischenrufe: ein Buch, einen Roman, einen Bestseller zu schreiben oder nicht? Ein Mann, der sich schon seit Beginn dieser Geschichte als mutmaßlicher Autor ausgibt, kommt zwischen den Zeilen hervor, holt sich aus dem Requisitenraum einen Chefsessel, läßt sich majestätisch darauf nieder, rückt seine Kravatte zurecht und sieht aus, als wolle er sogleich etwas sagen, suche aber noch nach der passenden Formulierung. Der Autor: Hören Sie, ich schreibe nun schon etwa fünf Seiten an einem Roman, der keiner wird, wenn Sie nicht endlich eine vernünftige Handlung erfinden. Der Erzähler: Wo kommen Sie denn plötzlich her? Der Autor: Ich bin der Autor. Der Erzähler: Ja, ich hörte davon. Sehen Sie, da draußen, das ist der Leser, ein ziemlich typischer übrigens. Er hat bisher noch keinen vernünftigen Vorschlag für meine Geschichte gemacht. Der Autor: Unsere. Der Erzähler: Bitte? Ach ja, unsere natürlich. Wie kommen Sie hier herein? Der Autor: Ein erzählerischer Trick. Der Erzähler: Also genau das Richtige für mich. Der Autor: Später. Das mit der SEXSZENE war übrigens gar nicht mal so schlecht, das sichert uns Leser. Der Erzähler: Außer dem, der uns gerade liest. Der Autor: Abwarten, wir müssen ihn nur richtig SCHARF machen, mit VERDAMMT HEISSEN UND DETAILIERTEN BESCHREIBUNGEN, er traut sich ja nur nicht, weil jederzeit jemand hereinkommen könnte und fragen: Was liest Du denn da, mein Schatz? Und wenn er dann sagen müßte: Eine Geschichte, an deren Entstehen ich beteiligt bin, und der Jemand würde sagen: Zeig mal her, und da würden so entsetzlich SCHARFE Sachen drinstehen, wer weiß, ob das ein gutes Licht auf unseren Leser werfen würde. Der Erzähler: Wir hätten dann übrigens zwei. Der Autor: Stimmt. Und die sähen sich dann ganz schuldbewußt an, daß sie in solche Ferkeleien mit verwickelt sind und könnten dann vielleicht nicht mehr miteinander, aber wenn wir das Ganze richtig SCHARF aufziehen, dann würde der Jemand, unser zweiter Leser, unserem ersten Leser, der bisher, das muß man einfach mal betonen, NOCH NICHTS EFFEKTIVES ZUR HANDLUNG BEIGETRAGEN HAT, tief in die Augen sehen und ihm die Kleider vom Leib reißen, um ihn reichlich für sein ENGAGEMENT zu belohnen, nicht wahr, so käme es doch. Ich finde, das sei eine Überlegung wert. Der Erzähler: Es scheint ihn unbeeindruckt zu lassen. Der Autor: Dann können wir die Sache wohl vergessen. Wir hätten dann bei PLAYBOY veröffentlichen lassen können. Der Erzähler: Zum Beispiel, ja. Vielleicht hätten wir dann aber auch unsere gesamte katholische Leserschaft verloren. Der Autor: Schon möglich. Aber immerhin hätten wir einen Verlag gehabt, der unsere Geschichte druckte. Der Erzähler: Machen wir eben etwas völlig anderes. Überlegen wir uns, an welche Zielgruppe wir uns wenden wollen. Der Autor: Auf keinen Fall an die Intellektuellen! Denen kann man doch sowieso nichts recht machen. Außerdem liegt das über unserem Niveau und jetzt ist es, denke ich, auch schon zu spät, um noch etwas retten zu wollen. Jeder Intellektuelle hat unser Buch schon längst zugeschlagen. Die lesen noch nicht mal mehr die Kritiken. Wir stehen vielleicht schon in irgendeinem Regal, sind am zustauben und vergilben nach und nach, ein Artefakt, nennt man sowas. Der Erzähler: Probieren wir es trotzdem, damit wenigstens die Kritiken gut ausfallen. Noch haben wir die Fäden in der Hand. Der Autor: Gut, lassen wir den Leser eine zeitlang lesen, während wir unsere Geschichte erzählen. Ich fange an: Das Fenster wird von innen geöffnet und der Mann springt auf das Trittbrett. Wohin wollen Sie denn, fragt der Fahrer. Wohin Sie mich mitnehmen, antwortet der Mann. Dann steigen Sie mal ein. Er steigt ein und macht es sich so gemütlich, wie es die harte Sitzbank zuläßt. Das Innere des Wagens ist spärlich und rein zweckmäßig eingerichtet: Plastikverkleidung grau, Stoffbezüge grau, ein Fach mit Papieren, Hustenpastillen, zerknitterten Papiertaschentüchern, einer schmutzigen Mullbinde, einem Satz Schraubenschlüsseln. Neben dem Armaturenbrett liegt ein Kofferadio, auch grau. Der Fahrer, ein etwas korpulenter Mann, mit blauer Latzhose, kariertem Hemd und fauligem Atem, konzentriert sich mal auf die Straße, mal auf seinen neuen Begleiter, schnieft gelegentlich und wartet offenbar darauf, daß sein Beifahrer das Gespräch eröffnet. Woher kommen Sie, fragt er schließlich. Vom Land. Ich will in die Stadt, egal wohin, Hauptsache in die Stadt, Geld verdienen. Zu Hause rausgeflogen, was? Nein, ich habe nicht zu Hause gewohnt. Ich hatte mir eine kleine Wohnung gemietet, um in aller Ruhe an einem Buch zu arbeiten. Der Erzähler: Ja, das ist gut! Der Autor: Irgendwann war dann kein Geld mehr da, ich war mit der Miete im Rückstand, mit dem Buch lief es auch nicht so, wie ich wollte und letzten Endes mußte ich mich auf die Socken machen, um irgendwoher Geld zu bekommen. Der Fahrer schaut mitfühlend auf die Straße, weil Lastwagenfahrer immer mitfühlend auf die Straße schauen, wenn ihnen jemand sein Leid klagt und ihnen nicht einfällt, was sie dazu sagen sollen. Also sagt er nichts und schaut auf die Straße, drei Wegbiegungen lang, und fragt endlich: Haben Sie kein Gepäck? Der Erzähler: Hat er kein Gepäck? Der Autor: Sie hatten bisher jedenfalls keines erwähnt. Der Erzähler: Einen Rucksack mit Unterwäsche und zwei, drei frischen Hemden sollten wir ihm vielleicht schon mitgeben. Der Autor: Dann muß ich aber meine letzte Frage revidieren. Also: Was ist mit Ihren restlichen Sachen? Ich mußte alles an meine Vermieterin verpfänden, solange, bis ich wieder zurück bin und meine Schulden begleiche. So, brummt der Lastwagenfahrer und schaut wieder auf die Straße, diesmal vier Wegbiegungen lang. Stört es Sie, wenn ich rauche, unterbricht unser junger Protagonist das Schweigen, die Zigaretten bereits aus der Jacke kramend. Rauchen? Jetzt? Und hier? Nee, also wissen Sie, Sie sitzen jetzt seit fünf Minuten und mindestens sieben Wegbiegungen hier in meinem Wagen und schon wollen Sie rauchen. Das geht nicht an, wo doch Passivrauchen noch gefährlicher sein soll und dieser ganze Dreck in der Luft, nein danke, nicht mit mir, hätten Sie vorher tun sollen! Aber ich bitte Sie, ein Zigarettchen, was soll denn da passieren? Nix, davon kriegt man Krebs. Ich will doch nicht an Krebs, nee, also an Krebs wirklich nicht. Und unser junger Freund: Krebs, Sie sterben doch nicht an Krebs, glauben Sie, Sie sterben an Krebs, ach was, wer stirbt denn heute noch, also nein, wirklich, ich meine, Sie glauben doch nicht, oder wer glaubt schon dran, daß er mal dran glauben muß, und dann an Krebs, nein, also wirklich, Krebs ganz sicher nicht. Ein Verkehrsunfall zum Beispiel, oder ein Raubüberfall, ja. Meinetwegen auch Herzverfettung oder ein Schlaganfall, könnte ich mir alles vorstellen, aber Krebs. Die gute Landluft und die frische Milch. Ich bin nicht vom Land, unterbricht der Fahrer. Nicht? So. Na dann die frische Stadtluft und die H fettarme Milch, ist alles kein Grund für Krebs, Passivraucherbein und so. Kann ich jetzt eine rauchen oder nicht? Der Erzähler: Stop! Um Himmels Willen! Unser Protagonist ist ein linkisches Arschloch. Wie soll sich denn der Leser mit diesem Typ identifizieren können? Ich wollte eine harmonische und idyllische Erzählung in warmen, erdfarbenen Bildern. Alles durch Braunfilter gesehen und die rosarote Brille. Irgendwas Landmäßiges mit einem jungen Agraringenieur und einer hübschen Landwirtschaftstudentin auf einem Bauernhof mit Kühen und Schweinen, fernab von jedem Fortschritt und jeder zivilisierten Begattungsmanie. Idylle. Harmonie... Der Autor: So klangen Sie mir am Anfang allerdings nicht. Der Erzähler: Provokation. Ich wollte den Leser doch nur provozieren, selbst auf etwas Idyllisch-Warmherziges zu kommen. Psychologie, verstehen Sie? Was denken Sie, warum ich sonst diese absurden, häßlichen Beispiele gewählt habe. Abschreckung, mein Lieber, alles Abschreckung. Kitschig-glibberige Knetmännchen, Sex... Der Autor: Müssen Sie ausgerechnet den Leser in DIESEM Buch von DIESEM Buch abschrecken? Und außerdem: Die Sache mit der Sexszene war doch gar nicht mal so übel! Also in dieses Buch kommt mindestens EINE Sexszene. Der Erzähler: Dann steige ich aus! Der Autor: Schauen Sie mal, sollten wir nicht lieber unsere Geschichte weitererzählen, anstatt den Leser unnötig mit unseren privaten Meinungsdivergenzen zu strapazieren? Also, unser Protagonist ist KEIN Arschloch, hat nie etwas vom Rauchen erwähnt, jedenfalls nicht in DIESEM Buch, trinkt keinen Alkohol und ist immer ganz furchtbar nett zu seinen Mitmenschen, wie wir im Folgenden eventuell noch sehen werden. Kein böses Wort, kein böser Blick, alles nur gut und toll, die reinste Identifikationsmaschine, paßt auf jeden, ganz wunderbar. Machen wir weiter:... Der junge Mann, unser Protagonist: Moment mal! Bevor ich mich hier nochmal zum Deppen machen lasse, erzähle ich lieber selbst, WAS WIRKLICH GESCHAH. Also, um hier einmal ein paar Dinge richtigzustellen: ich bin schon ein Arschloch, manchmal jedenfalls, mindestens aber so oft wie jeder andere auch, hängt ganz von meinem Gegenüber ab. Dann: Das mit dem Alkohol ist nicht ganz korrekt, ich trinke schon mal ein oder zwei Bierchen und so, und die Sache mit dem Rauchen war auch ganz anders: Ich habe den Typ nur gefragt, ob er auch eine will, und er wollte eine, ganz egal, ob er davon nun Krebs kriegt oder nicht, er hat sie einfach genommen und ich habe ihm Feuer gegeben und er hat auf die Straße gesehen und ich habe meine angezündet und wir haben uns über ihn unterhalten, beziehungsweise über seine Arbeit, und daß es sich nicht mehr lohnt, auf den Markt zu fahren, weil die Leute ihr Gemüse und ihre Zwiebeln und Kartoffeln, Zwiwwle unn Grumbeere, hat er gesagt, im Supermarkt kaufen, anstatt bei ihm oder den anderen Markthändlern, er war übrigens Markthändler und wollte auf den Markt fahren, obwohl ich irgendwann nicht mehr ganz verstanden habe, warum er das tat, weil doch sowieso keiner kam und er sich darüber beklagte, daß keiner kam, kä Sau, hat er gesagt, und er bei jedem Wetter, auch bei schlechtem, dann auf dem Marktplatz herumgestanden hat, mit Gummistiefeln in irgendwelchen Wasserlachen und Pfützen und im Winter mit Spikes, Schbeigs, hat er gesagt, auf dem gefrorenen Pflaster, wo er doch Rheuma hat und vier hungrige Mäuler, wie es eigentlich immer der Fall ist, im arbeitetenden Volk wenigstens, und als wir in der Stadt waren, hat er mich am Rathaus rausgelassen und mir alles Gute gewünscht, für mein weiteres Leben und so, was man halt so sagt, wenn man sich ganz nett mit jemandem über so viele nette Dinge unterhalten hat und es auch sonst ganz nett war, auch wenn man kein Bedürfnis hat, die Adressen auszutauschen, was eh nicht gegangen wäre, weil ich hier noch keine hatte, und die meiner Vermieterin wollte ich ihm auch nicht unbedingt geben, weil ich eigentlich nicht vorhatte, jemals dorthin zurückzukehren, obwohl meine Sachen noch dastanden, aber ich pflege den minimalistischen Lebenstil, und das Zimmer war sowieso möbliert, mein war eigentlich nur der Fernsehapparat, die Schreibmaschine und ein Koffer mit Büchern, den ich bei Freunden untergebracht hatte, nachdem ich ihn in einer mondlosen Nacht aus meinem Zimmer geschmuggelt hatte. So viel zu dem, was bisher passiert war, und nun die folgenden Ereignisse meiner Geschichte: Nachdem ich mich also von Hubert, dem Markthändler, der so freundlich gewesen war, mich mitzunehmen, verabschiedet hatte, ging ich erstmal in dieses Rathaus da hinein und habe mich von Zimmer zu Zimmer durchgefragt, wer mir wohl helfen könnte, eine Arbeit zu finden und wo es günstige Wohngelegenheiten gab. Irgendwann war ich dann richtig und bekam die Adresse einer kleinen Pension namens Grillparzer von einer kleinen Person namens Schmidt, die mit hochgestecktem Haar und rosaroter Bluse auf den Computerbildschirm starrte und sich sichtlich schwertat, mir die nötigen Informationen zu besorgen. Irgendwann hielt sie mir dann eine Liste aller lokalen Zeitungen und Zeitschriftenredaktionen hin, an die ich mich wenden könnte, die aber sicherlich alle überbesetzt wären und Typen mit Bart schon gar nicht einstellten. Ich machte es mir also erstmal in einer ruhigen Kneipe gemütlich und überlegte mir, wie ich diese ganze Sache mit möglichst wenig Streß hinter mich bringen könnte. Danach mietete ich mich in der kleinen Pension namens Grillparzer ein und überlegte mir, wo ich diesen Namen schon einmal gehört hatte, aber mir fiel dazu nur ein einradfahrender Zirkusbär ein, so daß ich meine Überlegungen sein ließ. Diese Sache mit dem Bart lag mir schon den ganzen Nachmittag auf dem Magen, denn irgendwas mußte sich diese graue Maus von Sekretärin doch dabei gedacht haben, mich besonders darauf hinzuweisen. Schließlich überwand ich meine Skrupel und, ob Sie es glauben oder nicht, rasierte ihn ab. Um Gottes Willen, werden Sie jetzt schreien, wie kann er nur eines seiner Hauptmerkmale entfernen, erkannten wir ihn doch am haarigen Geflecht seines Antlitzes. Aber wissen Sie, ein Mann muß tun, was ihm empfohlen wird, und sei er auch nur der Protagonist eines Groschenromans und seine Ratgeber bebrillte, rosarotbebluste Sekretärinnen. Ich entledigte mich also meines brünetten Schmuckes und kam sozusagen als neuer Mensch wieder aus dem Bad, entschlossen, Grundlegendes in meinem Leben zu verändern. Eine blauäugige Blondine: Und jetzt ich! Nennen Sie mich, wie Sie wollen, ich nenne mich jedenfalls E Punkt K Punkt, geschrieben E.K., und bin, um den kommenden Ereignissen vorwegzugreifen und Ihnen die Spannung ein wenig zu nehmen, falls Sie noch mit Spannung dabei sein sollten, Journalistin und angestellt bei der kleinen Zeitung, deren Namen ich hier verschweige und bei der sich unser Protagonist später bewirbt und eingestellt wird. Ich saß etwa zur gleichen Zeit, also irgendwann gegen acht Uhr abends, zuhause vor der Glotze und verfolgte gelangweilt die Nachrichten im Ersten, was mich zunehmend deprimierte und zu dem Entschluß führte, mal wieder etwas gegen das Versumpfen in meinen eigenen vier Wänden zu unternehmen. Ich machte mich zurecht, zog meine schwarzen Levi's an, ein weißes Rüschenhemd, die schwarzen Boots und die schwarze Lederjacke, fuhr meine Augen mit Kajalstift nach, schob eine Pizza in die Mikrowelle, betrachtete mich im Spiegel, befand mein Aussehen als aufreizend, zog die Lederjacke wieder aus, um zu essen und verließ meine Wohnung, nicht ohne die Jacke wieder anzuziehen. Ich machte mich auf den Weg zu Rick's Bar, schlenderte dabei durch verschiedene Einkaufsstraßen, hüpfte durch Pfützen, die beim Putzen der Schaufenster entstanden waren und entsetzte mich über die neueste Mode, die von den Boutiquen ausgestellt wurde. Endlich kam ich dann zu Rick's Bar am Ende der Bahnhofsstraße... Unser Protagonist: ...wo ich bei einem Bier krampfhaft versuchte, die Zeitung zu lesen. Ich saß in einer Ecke des Raumes an einem runden Tisch, dem einzig freien übrigens - das wird noch wichtig, passen Sie auf - und versuchte, mich trotz des hohen Geräuschpegels und der lauten Musik auf die Feuilletonartikel zu konzentrieren. Die Kneipe hatte eine nette Aufmachung: grau getünchte Wände, graue Decke mit weißen Stuckornamenten, weiße Zierleisten, einige expressionistische Poster von Pechstein, Beckmann, Nolde und Kirchner, viele Grünpflanzen und einen schwarzen Marmorfußboden. Die Kneipe strahlte einen stark ausgeprägten Kaffeehausflair aus und wirkte kaum provinziell. E.K.: Nicht zuletzt deshalb eine meiner Lieblingskneipen. Ich kam also herein und sah mich nach bekannten Gesichtern um, was in Rick's Bar nie ein Problem ist, weil sich alle nach Dir umdrehen, wenn Du zur Tür reingehst, und mußte die schmerzliche Erfahrung machen, daß ich niemanden dort kannte, ein deutlicher Nachteil dessen, was das Zurückgezogensein mit sich bringt. Wenn man nicht jeden Abend ausgeht, kennt man keine Leute, und ich kannte vor allem deshalb keine, weil ich das letzte halbe Jahr fast jeden Abend mit Johannes im Bett verbracht hatte und nach unserer Trennung nicht mehr vor die Tür gegangen war. Ich nahm mir also, noch während ich da so im Eingang stand, vor, an diesem Abend einen Typen kennenzulernen. Und dann sah ich diesen leeren Stuhl, den letzten, wie Du bereits erwähnt hast, und ging zielstrebig darauf zu. Ich fragte Dich höflich, ob der Stuhl noch frei sei und Du sagtest ebenso höflich, jedoch ohne von der Zeitung aufzusehen, daß das der Fall sei. Ich nahm also Platz, kramte meine Zigaretten hervor und fragte Dich wieder höflich, ob Du auch eine Zigarette wolltest. Wieder gabst Du höflich Antwort, ohne von der Zeitung aufzusehen und lehntest dankend ab, Du hättest selber welche. Ich zündete mir dann eben allein eine an und fragte Dich nach einer Weile, was Du da läsest. Unser Protagonist: Und dann dachte ich wirklich, ich dreh' gleich durch und was diese olle Quasselstrippe überhaupt von mir will, schlug meine Zeitung zusammen und wollte Dich gerade fertigmachen, als mir Deine Erscheinung plötzlich sehr positiv anmutend die Sprache verschlug. Ich saß nur noch da und starrte Dich an. Blaue Augen, blondes, schulterlanges Haar, sinnliche Lippen, ungeschminkt, ein Engel aus einer anderen Welt, zu mir gekommen, um mir die Schönheiten des anderen Geschlechtes wieder einmal vor Augen zu führen, die ich so lange, über meinen Roman gebeugt, nicht hatte wahrnehmen wollen. Ich hörte den magischen Trommelwirbel des Malerischen, Himmlischen, des Verlockenden in mir vibrieren und... E.K.: Laß mal gut sein, braucht ja nicht jeder zu wissen, wie Dein Seelenleben aussieht. Ich war jedenfalls auch sehr angenehm überrascht, als ich Dich endlich ohne Zeitung vorm Gesicht sehen konnte und mir fiel sofort auf, daß Du frisch rasiert warst. Ich hatte an diesem Tag die Sekretärin vertreten müssen, die immer die Bewerbungen durchgeht, und allen Typen mit Bart sofort und ohne weiter auf ihre Präferenzen zu achten, abgesagt. Ich konnte Männer mit Bart nicht mehr ertragen, seit ich mich von Johannes getrennt hatte, weil sein Bart beim Küssen entweder immer gekitzelt oder gekratzt hatte und er ihn auch nicht abschneiden wollte, obwohl er mich geliebt hat und ich ihm ganz deutlich sagte: Wenn Du mich liebst, dann mach ihn ab. Natürlich hat er es nicht getan und ich zog die Konsequenzen und trennte mich ein paar Monate später von ihm. Seitdem konnte ich keinen Typ mit Bart mehr sehen. Und als ich Dich dann hinter Deiner Zeitung vorschießen sah, fiel mir natürlich als erstes auf, daß Du rasiert warst. Danach erst fielen mir Deine klaren, wachen Augen auf, das Römische Deiner Nase, die schmalen Augenbrauen, die Geradlinigkeit Deiner Ohren und das Wirre der Haare. Ich stellte mir Dich vor, wie Du auf einer einsamen Landstraße im Regen durch große Pfützen watest, der Wind Dir das nasse Haar zerzaust... Unser Protagonist: Werd' nicht sentimental! Wir wollen hier nur unsere Geschichte loswerden und dann machen wir den Abgang. Ich fragte Dich dann, verwirrt wie ich war, ob Du Feuer hättest und wo die Toilette sei, sagte, daß Du nicht weggehen sollst und ob ich Dir was bestellen kann. E.K.: Ich bemerkte sofort, daß Du angebissen hattest. Stellen wir doch das Gespräch nach, das dann entstand. Ich sagte, als Du wieder da warst: Sie sind nicht von hier, stimmt's. Unser Protagonist: Nein, ich komme vom Land. Aber kennen wir uns nicht von irgendwoher? E.K.: Vielleicht vom Sehen. Irgendwo hat man doch jeden schon mal gesehen und die Menschen sind sich doch alle so ähnlich. Heute mittag ist mir da etwas Amüsantes passiert: Ich war auf dem Markt, um einzukaufen, und als ich dann bei einem Gemüsehändler stand, um mir ein paar Kartoffeln einpacken zu lassen, hatte ich das Gefühl, den Mann schon mal in irgendeinem Film gesehen zu haben. Seltsam, nicht. Unser Protagonist: Ja, schon irgendwie seltsam. Was einem alles passieren kann, das glaubt man gar nicht. In einem Film, sagten Sie? Wie sah er denn aus? Wie Marlon Brando oder James Stewart? Gregory Peck, vielleicht? Gregory Peck finde ich nämlich ganz toll. Eine Wahnsinnsaustrahlung, einfach umwerfend. Oder Rock Hudson. Spitze, wirklich. E.K.: Wenn man sich die Anfänge unserer Bekanntschaft noch einmal ins Gedächtnis ruft, muß man doch irgendwie zugeben, daß es ziemlich banal war, was da passiert ist, vor allem unsere Gespräche, geradezu beschämend, diese ganzen Phrasen und Floskeln, kennen wir uns nicht von irgendwoher, irgendwo hat man doch jeden schon einmal gesehen, nicht wahr, ja, seltsam... Wir sollten uns vielleicht einen intelligenteren Diskurs ausdenken, den wir anstelle der Wahrheit präsentieren, dann denkt jeder und zumindest der Leser, denn an den sollten wir doch auch von Zeit zu Zeit, das war eine Alliteration, wohlgemerkt, denken, daß wir die vollkommenen Intellektuellen sind. Man kann die Leute mit ein paar Worten ja so hinters Licht führen und mit ein paar mehr auch dort lassen. Einen Diskurs über Tradionsverlust und den Zerfall der Werte, bitte. Der Autor: Was treiben die da eigentlich? Der Erzähler: Sie fangen jetzt gleich an, zu diskutieren. Der Autor: Können die das nicht irgendwann anders tun? Nach der letzten Seite zum Beispiel? Der Erzähler: Sie legen wert auf eine Aufpolierung ihres Images, und was wir nicht tun können, tun sie eben selbst. Das ist die neue Generation, wissen Sie, die lassen sich nichts mehr vormachen, die leben ihr eigenes Leben, da kann man nicht mehr sagen, macht dieses, macht jenes, da machen die höchstens das Gegenteil. Unser Protagonist: Genau. Und damit wären wir dann auch schon beim Thema: Der Zerfall der Werte. Daran sind nicht wir, die neue Generation, schuld, das habt ihr Alten verbockt, wir bauen nur daran weiter, beziehungsweise untergraben die Pfeiler der Tradition, mittlerweile mit Schaufelradbaggern, während ihr noch mit Löffeln ganz vorsichtig daran herumgekratzt habt. Wir wurden ja nichts anderes gelehrt, als zu baggern und alles plattzuwalzen: Da habt ihr die totale Freiheit, seht zu, was ihr damit anfangt. Die totale Freiheit – Nachtigall, ick hör Dir trapsen. So ein Unsinn. Wenn wir was gewollt haben, haben wir es auch bekommen, wir konnten immer tun und lassen, was wir wollten, keiner hat uns was verboten. Wir mußten nie für etwas kämpfen. E.K.: Und dann diese grauenhafte Langeweile, bevor man endlich erst weggehen kann. Früher hat man diese Zeit genutzt, um mit den Eltern zu diskutieren, ob man weggehen darf oder nicht. Heute schlägt man sich diese Zeit mit Schminken und Zurechtmachen um die Ohren. Unser Protagonist: Ja, stimmt, und da steht man dann stundenlang vorm Spiegel und dreht und wendet sich und probiert an, weißes Hemd weißes T-Shirt, schwarzes Hemd schwarzes T-Shirt, blaue Jeans schwarze Jeans, Lederjacke oder Sakko oder doch wieder Lederjacke, nur diesmal eine andere Jeans, man schwitzt sich tot dabei und am Ende hat man dann doch wieder die neuesten Klamotten an und die alte Lederjacke und so weiter und so fort und man sagt sich, nächste Woche, Montag, ja spätestens Montag, Montag vormittag, gehe ich einkaufen, nicht nur so ein Stadtbummel, Schaufensterbummel, von Geschäft zu Geschäft, Boutique zu Boutique, nein, rein in jeden Laden und koste es, was es wolle, rein mit Dir, Klamotten kaufen fürs Wochenende, weil man die alten nicht mehr sehen kann, weil man sich in den alten vor allem nicht mehr sehen kann, kaufsüchtig wird man da geradezu, will mehr und mehr haben und all das, weil man nicht mehr mit den Alten, den Eltern, Papa und Mama, nicht den Klamotten, mit Alten meinte ich nicht die Klamotten, wir sind schon wieder weiter, disputieren und diskutieren, streiten und schreien muß, um weggehen zu dürfen. Das sind die Nachteile unsrer Freiheit: Kaufsucht und Narzißmus. Der Autor: Die spielen doch wohl nicht auf uns an? Haben wir ihnen zu viel Freiheit gegeben, vergessen, sie in ihre Schranken zu weisen? Und jetzt rächen sie sich mit Anspielungen dieser Art? Der Erzähler: Überlassen wir das der Literaturwissenschaft. Rein psychologisch jedoch erscheint mir das ganze als Projektion, das ist schon wahr, ein feinsinniger didaktischer Trick. E.K.: Ach was, Blödsinn, hier ist nichts metaphorisch oder doppeldeutig. Wir wollten doch nur ein wenig auf die intellektuelle Dimension, wenn ich so sagen darf, unserer Beziehung hinweisen, eine Dimension, die in ihrer unerschütter-lichen Tiefgründigkeit noch auf nichts Gleichwertiges gestoßen ist. Jetzt aber halten Sie sich endlich raus! Unser Protagonist: Bringen wir endlich unsere Erzählung hinter uns und hauen ab, es fängt an, mich zu langweilen. E.K.: Unsere Erzählung, ja richtig. Es handelt sich hierbei um die unergründlichen Zufälle des menschlichen Daseins, um das Dasein selbst, um Liebe und Tod, den klassischen Stoff also, der die Literatur schon von Anfang an zu dem gemacht hat, was sie ist: Abbild des Lebens. Halten wir das fest. Und diese Zufälle haben uns unsere Geschichte geschenkt. Der Erzähler, der Ihnen, unserem Leser, eine honigsüße Romanze auf dem Land verkaufen wollte, was Sie, in aller Bescheidenheit, aber dennoch glücklich verhindert haben, das Einschreiten des Autors kurz vor dem Eklat, Hubert, der unseren Protagonisten heil in unsere Stadt gebracht hat, die kleine Person namens Schmidt, die das Unfaßbare initiiert hat: Die Entfernung des Bartes auf unbefristete Zeit, und die damit die letzte Voraussetzung geschaffen hat, daß unsere Geschichte einen glücklichen Anfang findet, darüber hinaus die unergründlichen Zufälle, die das Universum geschaffen haben, den Menschen in seiner stoischen Ruhe und Gelassenheit auf der Erde anwachsen ließen, nicht zuletzt die Existenz unserer Eltern, die uns diese gottverdammte Freiheit schenkten, und von Rick's Bar, unvergessenem Treffpunkt unserer beiden schlichten Gemüter, all das und noch viel mehr hat es uns ermöglicht, unsere Geschichte zu erleben und hier zu erzählen.