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Charlotte Sometimes (1997)

Photo by Karla Paola on Unsplash

Wir, die Pseudointellektuellen, saßen, gauloisesschmauchenderweise und milchkaffee- schlürfenderdings, in unserem Lieblingscafé, drei Häuserblocks weiter, südlich, ließen uns draußen, im Freien, auf unbequemen Korbsesseln die Sonne auf den Bauch träufeln, in wohldosierten Häppchen, versteht sich, unserer schwarzen Kleidung wegen, und gingen, nachdem wir unseren Diskurs über Nietzsche und den apollinisch-dionysischen Gegensatz für beendet erklärt hatten, geradewegs zu dem von uns beiden am meisten favorisierten Gesprächsthema über, als da wäre: unsere Unfähigkeit, uns für eine Frau entscheiden zu können, die wir, der christlichen Konvention gemäß, bis ans Ende unserer Tage oder wenigstens bis zum Anbruch des nächsten Sommers, so er denn kommen sollte, lieben und ehren würden – es sei denn, daß durch das Auftauchen einer uns bis dahin noch Unbekannten, einer apollinischen Göttin im Idealfalle, auch dieser Sachverhalt relativiert würde, was, mit Verlaub, im Vergangenen bereits des öfteren geschehen war.

So erinnerten wir uns der vielen Susis und Biggis, der unzähligen Claudis und Binis, der ehrenwerten Estelles und Annalisas, der unbedeutenden Mels und Pams, der besser zu verschweigenden Sandras und Steffis, der neurotischen Petras und Jeanines, der aphrodisierenden Letizias und Chantals, der Magdalenas und Constanzen, der Tinas, Brits, Dörtes und Veras, ja sogar der Theklas und Roswithas, Renates und Ingeborgs, die uns alle kein Glück gebracht hatten, höchstens flüchtige Wonnen und ein weniger flüchtiges Jucken im Genitalbereich, wie es jüngst erst geschehen nach dem Dreier mit Jeanette, der blonden Jeanette, die eigentlich brünett war, wie sie uns an ihrer Scham demonstrierte, jedoch aufgrund manischer Gefallsucht sich geradezu besessen allwöchentlich die Haare blondierte. Doch das nur am Rande.

"Laß uns doch mal Nägel mit Köpfen machen und für eine Weile die Finger von den Weibern lassen", schlug ich vor.

"Find ich jetzt nicht so gut", erwiderte Olli, "wo doch gerade Frühling ist und die ganzen Hormone..."

"Ach, du immer mit Deinen Hormonen. Hormone sind doch nicht alles!"

"Aber damals bei Giovanna, da bedeuteten dir Hormone ganz schön viel!"

"Ja, bei Giovanna", seufzte ich und gedachte all der Hormone, die ich ausgeschüttet, und wir beide fielen wieder zurück ins Schwärmen.

Wir waren just bei Tullia angelangt, kuschelten uns dabei noch etwas tiefer in die Sessel, ließen Babette Revue passieren, zogen verträumt an unseren Kippchen, nahmen Isabelle noch einmal von hinten und schlürften gedankenverloren an unserem Kaffee, als plötzlich am Nachbartisch die Temperatur mit einem Schlag beträchtlich stieg. Charlotte war gekommen, eine Freundin und Hure, den Mund wie immer leicht entzündet – eine Berufskrankheit: Sie erzählte mir einmal, im Vertrauen, daß sie von Fellatio Pickel bekäme, und wir sahen uns an und lachten.

Nun ja, Charlotte war, berufsbedingt, der Idee verfallen, den perfekten Fick zu entwickeln, und mit einem Hauch von Respekt und Bewunderung wurde erzählt, daß sie bereits recht weit fortgeschritten war. Sie war ständig auf der Suche nach Freiwilligen, die ihr bei der Forschung zur Hand und wozu auch immer gingen, und wir waren schon lange nicht mehr in den Genuß gekommen, ihr behilflich zu sein. Ihre Wohnung, eine gemütliche, kleine Maisonette in einem besseren Viertel der Stadt, hatte sie zu einer Art Vergnügungspark ausgebaut, mit viel bordeauxrotem Samt und allerlei stimulierendem Spielzeug: Ihre Raffinesse schreckte nicht einmal vor der Installation eines Andreaskreuzes mitten im Wohnzimmer zurück und einer Streckbank in der Diele.

Charlotte – welch köstlicher Name! welch köstliches kleines, fickriges Biest! Sie überschminkte sich gerade gewollt auffällig den Ausschlag mit Hilfe eines ornamentösen Handspiegels, als wir uns, die Gauloises und den Kaffee im Gepäck, zu ihr an den Tisch setzten.

"Hallo, meine Süßen", hauchte sie.

"Hallo, Charlotte", säuselten wir. "Du siehst heute ja wieder mächtig aufgebrezelt aus!" Charlotte lächelte in ihren Spiegel.

"Die erste Pflicht des Menschen", erwiderte sie, "ist, so künstlich wie möglich zu sein." Und nach einer wohldosierten Pause: "Worin die zweite Pflicht besteht, hat noch niemand herausgefunden. Oscar Wilde."

Ja, so war Charlotte. Mit nur zwei Sätzen hatte sie es wieder einmal geschafft, das Niveau vorzugeben, auf dem sie weiterhin kommunizieren wollte. Wir waren beeindruckt.

Olli und ich, unserem Wesen nach, waren eigentlich Romantiker, die Blaue Blume – ja, wie banal, wie peinlich, wie pseudointellektuell – unser Erkennungszeichen. Doch anbetrachts der ganzen Evelynes, Julias und Maries, die wir im Verflossenen zuhauf begehrt, verschmäht und fallengelassen, war uns Charlottes "professionelle Hilfe" manchmal mehr als willkommen, um a) schnelle Erleichterung und b) neue Inspiration zu finden. So auch diesmal.

Olli machte den Anfang und erkundigte sich nach dem Wohlbefinden des Whirlpools, den sich Charlotte vergangenen Monat zugelegt und in dessem Genuß wir noch nicht gekommen waren. Doch Charlotte wehrte gelangweilt ab und brachte das Gespräch wieder auf Wilde.

"Unvorstellbar", sagte sie, "wie verfeinert ein Mann sein kann und dann auf etwas so Primitives wie schwulen Sex abfährt. Dabei macht er ja keineswegs die Ausnahme, denkt man etwa an Rimbaud, Verlaine, Genet, Thomas Mann – in Einschränkung natürlich – oder an Francis Bacon."

"Den Philosophen?", fragte Olli.

"Nein, den Maler", sagte ich.

"Genau", sagte Charlotte, "den Maler."

"War Hemingway nicht auch schwul?", wollte Olli wissen.

"Nein, der kompensierte. Mit Großwildsafaris", erklärte Charlotte.

"Genau wie Prinz Charles also", witzelte ich.

"Schätzchen, bitte, lästere nicht über Prinz Charles!", wies mich Charlotte zurecht. In diesem Punkt war sie empfindlich. Offenbar hatte sie Angst, Charles könnte sie hören und ihr die Einreise nach England verweigern – was lebensbedrohlich für sie gewesen wäre, da sie in London immer die ausgefallensten Stücke für ihr Lustschloß einkaufte.

"Wollt ihr bumsen?", fragte sie plötzlich.

Wir, die Pseudointellektuellen, schauten uns etwas überrascht, wenngleich auch nicht gerade erstaunt in die Augen, verschoben die guten Vorsätze auf morgen, schubsten die Romantiker in uns in tiefschwarze Abgründe, drückten unsere Sonnenbrillen mit dem Zeigefinder leicht nach oben und stammelten, während wir versuchten uns in den Sesseln zurechtzusetzen: "Ja. Klar. Wieso auch nicht? Klar... Jetzt gleich?"

Charlotte zog die rechte Augenbraue bedeutsam hoch, trank ihre Limo aus, stand auf, um zu zahlen, drängte sich in unsere Mitte, hakte sich unter, sagte "Gehen wir bumsen" und zog uns fort zu ihrem roten Porsche. Die Romantiker in uns krochen noch einmal aus dem Schlund empor, in den wir sie gestoßen hatten, wedelten mit weißen Wimpeln, wurden aber sofort, durch einen fragenden Blick Charlottes, wieder dorthin zurückgestürzt.

Als wir drei Stunden später, ausgesaugt und leergepumpt, aus Charlottes Maisonette taumelten, vögelten die Zwitschen noch immer. Wir aber hatten das atemberaubendste, lustvollste, leidenschaftlichste, himmelsstürmendste, sinnenraubendste, ganzkörper-massierendste, eierkraulendste, schwanzlutschendste, anuskitzelndste, brustwarzen-kneifendste, lippenanknabberndste und lendenverwöhnendste Lustspektakel erlebt, das alles Gewesene mit einem Schulterzucken in den Schatten stellte und – so dämmerte uns bereits – einen Maßstab vorgelegt hatte, der mit Normalsterblichen nie wieder erreicht werden würde. Es war tatsächlich der perfekte Fick, den uns Charlotte geboten hatte, eine Höchstleistung an Zärtlichkeit, Phantasie, Kreativität, Leidenschaft, Sinnentaumel, Geben und Nehmen, Ansichreißen und Zurückstoßen – der perfekte Fick eben. Er war alles – außer echt. Und das machte uns, den Pseudointellektuellen und Ex-Romantikern, angst und bange, schlich sich uns in Unmutsquaddeln durch die Adern, besetzte das Hämoglobin, breitete sich aus auf die Lymphen, befiel die Organe, die Muskeln, Knochen, verschlang unser Herz und zerfetzte das Gehirn.

Angstschweiß überströmte uns. Doch keiner traute sich, das eben Erlebte in Frage zu stellen. So trennten wir uns an der Weggabelung, die in die Mainzer- und Großherzog-Friedrich-Straße führte, und wünschten uns, wie immer, alles Gute.

Als wir uns nach zwei Stellas, einer Juliette, einer namenlosen Landpomeranze, drei Schwedinnen, alle kurvenreich und wohlerzogen, einer minderjährigen Colette, zwei alleinerziehenden Müttern und insgesamt einundzwanzig unbedeutenden One-Night-Stands wieder trafen, sagte Olli zu mir: "Die zweite Pflicht des Menschen besteht darin, sich selbst einzugestehen, wie sehr man sich nach etwas Wahrem sehnt."

Charlotte haben wir seitdem nie wieder gesehen.